Dienstag, 29. November 2016

Eine Weihnachtsgeschichte



Heiligabend gegen zweiundzwanzig Uhr, er steht mit einer Zigarette und einem Bier am geöffneten Küchenfenster, still ruht die Straße unter seinem starren Blick. Hinter mehreren Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite blinken Weihnachtsbäume und Schwibbögen strahlen vor sich hin in die Dunkelheit. Doch sein Blick ruht auf drei nebeneinander liegenden, zum Lüften geöffneten Fenstern im ersten Obergeschoss. Die Vorhänge sind aufgezogen. Eine junge Frau mit langen braunen Haaren läuft in Dessous von einem in das andere Zimmer, während eine zweite eine Gesichtsmaske aufgetragen und nur mit einem Slip bekleidet Zähne putzt und eine dritte gerade in ihren pink-weißen Jogginganzug schlüpft. Da taucht an einem der Fenster eine Frau von etwa Mitte Vierzig auf, lehnt sich heraus und zündet sich eine Zigarette an. Ihr Blick trifft seinen und er prostet ihr zu. Sie winkt desinteressiert zurück. In den folgenden Minuten dreht sie ihren Kopf in unregelmäßigen Abständen nach links und rechts und hält Ausschau nach den letzten, potentiellen Kunden im Weihnachtsgeschäft, denn in der Wohnung im ersten Obergeschoss werden Wünsche, Vorstellungen und manchmal gar Träume verkauft. Die jungen Freelancerinnen haben inzwischen alle in ihre Feierabendgarderobe gewechselt. Er nippt an seinem Bier und wägt ab, ob er sich schon ein neues aus dem Kühlschrank holen sollte, nimmt einen letzten Zug von der Zigarette, bevor er sie in die Dunkelheit schnipst und sofort Tabak, Papers und Filter aus der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers zieht. Sein Blick ist währenddessen weiter auf die Wohnung fixiert, er weiß nicht, ob oder was er sich davon verspricht, doch er kann seinen Blick nicht abwenden, er verspürt keine Erregung, keine Abscheu oder Bewunderung für die Arbeit der Frauen. Im Grunde spürt er nichts außer dem sinkenden Füllstand in der Flasche, der Angst vor dem Wissen nur noch zwei weitere im Kühlschrank zu finden und schlechten Wortspielen, die durch seinen Kopf schießen.

Den Baum aufstellen.

Die Gans stopfen.

Die Wiener in den Kartoffelsalat stippen.

Schöner die Glocken nie klingen.

Das Geschenk auswickeln.

An der Zuckerstange lecken.

Er ext das letzte Drittel Bier, stellt die leere Flasche aufs Fensterbrett und dreht sich eine Zigarette. Er hat längst aufgehört zu zählen, doch der blaue Dunst wabert durch die Küche, als seien es zu viele gewesen. Er sieht wie die drei jungen Frauen mit Essen vom Lieferdienst auf dem Bett Platz nehmen, die ältere am Fenster blickt ihn starr an und gibt ihm – als hätten das Nikotin, die Kälte und seine bedauernswerte Gestalt sie milde gestimmt - durch einen Wink mit der Hand und einem mitleidigen Gesichtsausdruck zu verstehen, er solle zu ihnen rüberkommen. Er starrt aus leeren Augen auf sie und das Fenster, dann dreht er seinen Kopf zurück und sieht sich in seiner Küche um. Der Tisch liegt voller Papiere, Kronkorken, Tabakreste und Staub. Auf dem Herd steht ein Topf mit kalten, angetrockneten Nudeln, hinter der Küchentür stapeln sich die Plastetüten vom Dönermann. Dann fällt sein Blick auf den Kühlschrank. 'Zwei Bier' hallt es durch seinen Kopf. Er macht einen Schritt zurück, schließt das Fenster und die Vorhänge, dreht sich um und geht zum Kühlschrank. Er öffnet ihn, greift sich das vorletzte Bier und lässt die Tür wieder zu schwingen, die halb aufgerauchte Zigarette klemmt zwischen seinen Lippen und er fummelt das Feuerzeug aus der linken Tasche seiner Jogginghose, um damit die Flasche zu öffnen. '24.12., vierundzwanzig Flaschen in zwölf Stunden. Job well done. Und sogar noch eine zum Frühstück in Reserve. Sich zu verzählen hat doch sein gutes' denkt er sich und verlässt mit dem Bier in der Hand und der Kippe im Mund die Küche, macht noch einen Abstecher ins Bad, stellt sich vors Klobecken und lässt es laufen. Nach einem letzten, tiefen Zug lässt er die Kippe in die Schüssel fallen und drückt die Spülung, während er gleichzeitig einen großen Schluck aus der Flasche nimmt. Er verlässt das Bad und geht ins Schlafzimmer, wo er sich rücklings aufs Bett fallen lässt. Ein Schwapp flüssigen Goldes trifft die Laken und er starrt zur Decke.

1 Kommentar:

  1. Eine sehr zur Besinnung beitragende Geschichte in diesen besinnlichen Zeiten.

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