Montag, 7. November 2016

Beziehungsreste



Die frisch ausstudierte Psychotherapeutin hat auf der Dreisitzercouch im Wohnzimmer Platz genommen. Ihren Block auf dem Couchtisch vor sich liegend, trommelt sie, ihre Unterlagen durchblätternd, mit ihrem Stift auf dem Rand ihrer Kaffeetasse. Er sitzt ihr in einem abgewetzten Ohrensessel aus braunem Echtleder gegenüber und beobachtet, den Kopf leicht zur Seite geneigt, jede ihrer Bewegungen. 
Die heiße Sommerluft steht im Raum. Durch die heruntergelassenen Rollos zerschneiden die Sonnenstrahlen das Halbdunkel und brechen sich am in der Luft wabernden Staub. Sie trinkt einen Schluck Kaffee und stellt ihre Tasse neben ihrem Block auf dem mit Ornamenten verzierten, aber im Laufe der Jahre stark zerkratzten, Eichencouchtisch ab.

Sie räuspert sich, bevor sie ihm, knapp über seine Augen blickend, sagt: "Wissen Sie, es ist unüblich, dass ich Hausbesuche mache, aber in Ihrem Fall wird es wohl das Beste sein." Er murmelt ihr ein Danke zurück, während er, abgesehen vom Heben und Senken seines Brustkorbs bei jedem Atemzug, fast regungslos in seinem Sessel sitzt. Sie beginnt sich Notizen zu machen. Er starrt mit halboffenem Mund und leerem Blick auf ihren Block und scheint keinerlei Anstalten machen zu wollen, zu entziffern, was sie schreibt. "Wissen Sie, es wäre mir lieber, wenn Sie ein Mann wären und älter." Sie rollt mit den Augen: "Das mag ja sein, aber die Terminkalender meiner Kollegen sind zum Bersten gefüllt, also werden Sie wohl oder übel mit mir Vorlieb nehmen müssen."
Seinen Mund umspielen die ersten Anzeichen innerer Gegenwehr, bevor er fast unmerklich nickt.
"Wann würden Sie sagen, hat das alles angefangen?"



- LEERSTELLE -


Es herrscht Stille im Haus, bis auf das Knarzen der Bodendielen unter ihren Schritten. Ihre Stimme durchbricht das vor einigen Augenblicken eingetretene Schweigen zwischen den beiden: "Sie sammeln also die Reste Ihrer Beziehungen im Keller?" Er öffnet die Kellertür, schaltet das Licht ein und kurz sind das Knacken und das leise Klirren der Leuchtstoffröhren im Keller zu hören. "Ja, das ist auch so ein Spleen von mir." Er macht einen Schritt zur Seite und lässt sie durch das Ausstrecken seiner Hand wissen, dass er ihr den Vortritt gewähren möchte. Sie steigt etwas zögerlich auf die erste und danach die teils schiefen, teils krummen Treppenstufen herab, während er ihr in zwei Schritten Abstand folgt.

Auf der untersten Stufe angekommen, bleibt sie stehen und lässt ihren Blick schweifen. Er beugt sich möglichst unauffällig zu ihr herab, an sie heran, um an ihrem Haar zu riechen. Seine Pupillen ziehen sich bei dem Duft von Pfirsich gemischt mit Kokos umgehend zusammen, derweil schweift ihr Blick weiter durch den etwa zehn Quadratmeter großen, bis an die Decke gefliesten Keller. Der Fliesenspiegel ist in regelmäßigen Abständen von Ablaufrinnen und Abflüssen unterbrochen, von der Decke ragt ein alter, rostiger Fleischerhaken herab. Am Boden stapeln sich unzählige Kartons und Schächtelchen, zwischen denen die Ablaufrinnen Laufwege vorgeben. Sie beginnt den Wegen folgend zwischen den Kartons umherzustreifen und die Beschriftungen zu lesen: Sabine. Karin. Susanne. Sandy 1. Sandy 2. Sarah. Charlotte. Vivien. Caroline. Ulrike. Clara. Und so weiter.
"Haben Sie das hier nach irgend einem Prinzip sortiert oder eher wahllos aufgestellt?"
"Naja, ich wollte es eigentlich mal chronologisch sortieren, aber wie, wenn die Beziehungen parallel laufen? Mal mehr, mal weniger. Alphabetisch war mir zu blöd, also hab ich sie dann einfach nach Größe sortiert." 
Erst jetzt fällt ihr auf, dass man mit einem ausreichend großen, oben aufgelegten Brett eine schiefe Ebene von der einen zur anderen Wand bilden könnte. 
Ihre Augen spiegeln ein Gefühl zwischen Bewunderung für den betriebenen Aufwand und Sorge um die Größe der vor ihr liegenden Aufgabe mit diesem Patienten wider. Und während sie also unschlüssig zwischen den Kartons steht, eilt er zur Kühltruhe in der Ecke, bedeckt sie mit einem Laken und setzt sich darauf. "Darf ich die Kisten auch öffnen?" Er zuckt mit den Schultern und sagt er sehe kein Problem darin. "Hätte ja sein können, dass nicht. Das ist schließlich unsere erste Sitzung und das alles hier ein sehr persönlicher Bereich Ihres Lebens." Dann schließt sie die Augen, dreht sich ein paar Mal im Kreis, streckt Arm und Zeigefinger aus und zeigt auf eine der Kisten. Noch bevor sie die Augen wieder öffnet, greift er zügig mit der rechten Hand zwischen Kühltruhe und Wand und scheint etwas in der Hand zu halten. Er lässt den Arm in dem Leerraum baumeln. Nun, da sie die Augen wieder geöffnet hat, geht sie zu der Kiste mit der Aufschrift Madeleine hinüber, kniet sich davor und öffnet den Deckel.
Zuoberst liegen einige verschiedenfarbige Post-Its. Sie nimmt eins nach dem anderen heraus und liest einige davon vor. "Bring den Müll raus!" "Essen ist im Kühlschrank, kannste dir warm machen. Komme später!" "Cornflakes sind alle, brauche Tampons!" Dann stutzt sie kurz als sie ein blutiges Post-It in der Hand hält. Sie dreht ihren Kopf zu ihm, das Post-It mit der beschrifteten Seite nach oben und dann ihren Kopf zurück, um zu lesen. "Pflaster sind aufgebraucht!"
"Sie hat ja wirklich einen liebevollen Umgang mit ihnen gepflegt." Er nickt heftig, enthusiastisch und fügt merkbar enttäuscht an: "Ja und im Bett hatte sie den Enthusiasmus einer Leiche. War nicht gerade befriedigend. Ich hab sie dann nach drei Wochen ...", er macht mit seinen Fingern Gänsefüßchen, "... entsorgt." Sie legt die Post-Its zurück in den Karton, schließt den Deckel und krakelt schnell ein paar Notizen auf ihren Block, dann sieht sie ihn hockend von unten an: "Empfehlungen, welchen ich als nächsten öffnen sollte?" Er schaut sich kurz um, kneift die Augen zusammen und reibt sich die linke Schläfe. "Versuchen Sie's mit Corinna, die muss irgendwo bei den kleineren Abpackungen zu finden sein." Er macht eine dramatische Pause. "Nicht viel übrig von ihr, aber ..." er hebt den linken Zeigefinger "... das hat's dafür in sich."
Inzwischen hat sie Corinna gefunden und hebt sie auf. "Das ist ja nicht viel mehr als ein Schächtelchen?!" sagt sie enttäuscht, als sie eine circa zehn Zentimeter hohe Box mit quadratischer Grundfläche von etwa acht Zentimetern Seitenlänge hochhebt. "Ich sag ja, nicht viel übrig von ihr aber jetzt machen sie sie erstmal auf." Sie öffnet die Box und schließt sie sofort wieder. Sie starrt mit großen Augen auf die Box, dann zu ihm hinüber und dann wieder zurück zu der Box. "Ist das, was ich denke, was es ist?" Er zuckt kaum merklich mit den Schultern, um ihr zu verstehen zu geben, er glaube schon. "Ich glaube, ich habe vorerst genügend Einblick bekommen, wir können gern wieder hoch gehen." Sie geht zur untersten Treppenstufe, er rutscht von der Kühltruhe, nun ist zu erkennen, dass er einen schweren, metallischen Gegenstand in seiner Hand hält. Er geht zielstrebig auf sie zu, sie neigt sich leicht zur Seite, um den Gegenstand in seiner Hand besser sehen zu können und fragt ihn, was es sei. "Oh das?" fragt er auf den Gegenstand deutend zurück. "Das ist nur meine Rohrpumpenzange, die such' ich schon ewig. Weiß auch nicht, warum die hier unten liegt." Sie dreht sich um und geht eilig die Treppe hinauf. Er folgt ihr langsamen Schrittes.  
Im Erdgeschoss angekommen, ruft sie ihm fortwährend Richtung Ausgang strebend zu: "Ich sehe grade, die Zeit ist um. Das war wirklich ein guter Anfang." Sie kickt ihre Gastpantoffeln von den Füßen, schlüpft eilig in ihre Schuhe und macht einen letzten Satz zur Haustür. Die Klinke in der Hand rüttelt sie an der Tür, als diese sich nicht öffnen lässt, blickt sie panisch zur Kellertür. Er ist inzwischen ebenfalls im Erdgeschoss angelangt. Seine vernarbten Hände und Unterarme werden ihr erst jetzt wirklich bewusst, ebenso das Schielen seiner Augen hinter den beinahe daumendicken Brillengläsern. Auf seiner Stirn stehen einige Schweißperlen und die Rohrpumpenzange blitzt im Sonnenlicht. Sie ist wie zu Eis erstarrt, er hat sie beinahe erreicht, als er die Rohrpumpenzange erhebt und sagt: "Die Tür klemmt ein wenig, die muss man ganz sachte ein wenig andrücken, leicht anheben und DANN aufziehen." Er nimmt die Rohrpumpenzange in die linke Hand, schwingt sie hin und her, bevor er sie auf die Kommode im Flur legt, um seiner neuen Therapeutin die Tür zu öffnen. "Sie sollten wirklich Ihre Schuhe zubinden, bevor Sie noch stolpern." Sie schießt förmlich durch die Tür nach draußen. Er ruft ihr nach: "Gute Fahrt!" und winkt zum Abschied...

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