Samstag, 29. September 2018

Sommer in der Stadt


Als er wach wird, hat die Sonne ihren Zenit bereits überschritten. Er wischt sich die Hände am Laken trocken, zieht sich Unterhose und T-Shirt an. Der Geruch der Milchsäure steigt ihm aus dem Wäschekorb in die Nase. Er rafft sich auf, packt den Korb, geht ins Bad und schüttet den Inhalt unbesehen in die Maschine, schlägt die Tür zu und geht weiter in die Küche.



Er spült eine der herumstehenden Tassen flüchtig aus, gießt sich den letzten, kalten Kaffee vom Vortag ein und stellt sich ans offene Fenster. Auf der Straße unter ihm ist es ungewöhnlich ruhig. Er sieht auf die Uhr: 16.43. Eigentlich Zeit für Begängnis, Hochbetrieb, Geschäftigkeit, Feierabendverkehr. Kurz: Montagnachmittag.



Der Himmel babyblau, kein weißer Fleck weit und breit, der die Optik verschandeln könnte. Nur aus der Ferne sind die Schläge der Rotorblätter eines kreisenden Hubschraubers undeutlich zu vernehmen. Auch die Rufe aus dem Stadtzentrum sind nicht zu verstehen, doch er kennt sie bereits. Er weiß, was er morgen in den Zeitungen wird lesen können. Die Arme von einigen zum alten Gruß gehoben, Parolen proklamiert. Er weiß, was darauf folgen wird. Die üblichen Grabenkämpfe in den Kommentarspalten. Alle über jeden Zweifel erhaben. Die einen werden den Mob verharmlosen und die Schuld für die Ausfälle auf gezielte Provokationen der Gegenseite schieben, während die anderen mit einem Vergleich jede Diskussion im Keim ersticken werden. Er verabscheut die - womöglich wirklich - Besorgten für ihre Anbiederung bei den Fahnen schwenkenden Schreihälsen. Doch er will sich nicht zu erkennen geben. Noch nicht.



Er geht zur Küchenzeile, wiegt die Box vom Asia-Lieferservice in der einen Hand, während er mit der anderen eine Gabel aus dem Abwasch greift und setzt sich an den Küchentisch. Die Nudeln haben die Sauce seit dem Vorabend aufgesogen. Das Hähnchenfleisch ist kalt und labberig. Er beginnt die Reste in sich rein zu schaufeln. Draußen rauschen nur sporadisch Autos vorbei. Wer nicht im Stadtzentrum ist, muss wohl noch im Urlaub am Meer, in den Bergen oder auf Malle sein. Er versucht die Ruhe zu genießen, überlegt, wen er anrufen, mit wem er weggehen könnte.



Hans ist sicher mitten im Demozug zu finden. Thor Steinar war bei ihm nicht nur eine Phase schlechten Geschmacks. Olli wird Hans wohl gegenüberstehen, ist er doch inzwischen ganz offen Linker geworden. Keiner von den zündelnden Steineschmeißern. Gutmensch eben. Integration statt Abschiebehaft, immer kontra dem rechten Denken. Aus Prinzip und Überzeugung. Doch er ist noch nicht bereit, sich an Ollis Seite zu erkennen zu geben. Es wird schon vorbeigehen. Wie mit den Hartzern und den Griechen. Abgelöst durch ein neues Feindbild.



Er dreht das kalte Wasser auf, legt sich in die Wanne und beobachtet den steigenden Wasserspiegel. Sein untergetauchter Kopf lässt auch die letzten Außengeräusche verstummen. Er schließt die Augen, vergisst die schwere Luft, verdrängt die aufgeheizte Stimmung. Es wird schon vorübergehen.



Er beginnt zu schweben, sieht die guten alten Zeiten vor seinem inneren Auge. Mit Hans und Olli in der Schule. Keine Sorgen weit und breit. Saufen, feiern, tanzen. Das volle Programm.



Er hört einen dumpfen Schlag, öffnet die Augen, taucht auf. Von draußen hämmert der Regen an die Scheibe. Der Himmel ist grau. Blitze zucken über der Stadt. Das Wetter ist gekippt. Sicher nur ein Moment.