Donnerstag, 29. Dezember 2016

Business as Usual

irgendwie konnten nutten für mich einfach nie ihren zweck erfüllen
als würde ich nicht merken, dass sie nur erzählen, was sie denken, was ich hören will

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 Sie haben sich vor etwa fünfunddreißig Minuten kennengelernt und seit dreißig davon sind sie nackt. Abgesehen von dem unbefleckten, über seinen Schwanz gezogenen Präservativ ist er das immer noch, während sie bereits aus dem Bett gestiegen ist, sich ihren Tanga angezogen hat und nun zur Tür geht. "Ich werde jetzt die Tür aufmachen, damit die wissen, dass alles in Ordnung ist. Du kannst dich gern im Bad waschen und anziehen. Dann können wir noch ein bisschen reden, wenn du willst." Sie öffnet die Tür und macht kurz einen Schritt raus und wieder rein. "Möchtest du was trinken? Ich kann dir Eistee oder Wasser anbieten." Er spuckt gerade aus, nachdem er sich den Mund unter dem Wasserhahn ausgespült hat und wischt sich mit dem Handrücken die Lippen trocken: "Ja... Eistee... bitte... danke!" Er zieht sich seine Boxershorts an und riecht an seinen Achseln. Kalter Schweiß, Suff und noch nicht ganz so kalter Schweiß. Er hält seine Hände unter den Wasserhahn und reibt sich kurz mit kaltem Wasser den Oberkörper und das Gesicht ab, bevor er sich mit einem der Handtücher abtrocknet. Er sieht in den Spiegel, reibt sich das Gesicht und setzt seine Brille wieder auf. Er fühlt sich nicht schmutzig oder beschämt, zumindest nicht wegen dem, was andere in seiner Lage beschämen würde. Er zieht sich seine Sachen an, bis auf die Socken, mit denen geht er wieder ins andere Zimmer und setzt sich auf einen der beiden Sessel - völlig unmöglich in seinem Zustand das Gleichgewicht zu finden, um sie im Stehen anzuziehen. Sie hat sich inzwischen, wieder in Arbeitskleidung, auf den Hocker vor dem Zimmer gesetzt. "Das Glas auf dem Tisch ist deins." Er nickt und holt Tabak, Papers und Filter aus seiner Hosentasche: 'Du bist vielleicht immer noch zu besoffen, deine Socken einfach so im Stehen anzuziehen, aber das muss jetzt klappen.' Er dreht sich eine Zigarette, sie steht währenddessen vom Hocker auf, holt einen Aschenbecher aus dem Zimmer und setzt sich mit ihm in der Hand wieder hin. 

Er geht zu ihr rüber und stellt sich neben der Tür in den langen Flur. Einer seiner Freunde und eine ihrer Kolleginnen eilen gerade, jeder von ihnen nur in ein Handtuch gewickelt, von einem Zimmer in ein anderes. Er zündet sich seine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug, während er ihr tief in die Augen sieht: "Und wo kommst du her?" Blöde Frage, das weiß er selbst, aber ein Akzent ist nunmal nicht unbedingt der schlechteste Aufhänger für ein wenig Small Talk. Sie erzählt ihm, sie sei aus Ungarn und da er erschreckend wenig über dieses Land weiß, fragt er einfach, ob sie diesen Job schon immer machen wollte. Er hat das Gefühl, seine Fragen würden immer dümmer. Sie fährt fort, dass sie eigentlich gelernte Schneiderin sei und keine Anstellung bei angemessener Bezahlung gefunden habe, weshalb sie jetzt seit ein paar Jahren das hier mache. Er hat seine Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte, nicht weil er ihr grundsätzlich die Ehrlichkeit absprechen will, sondern weil seine eigene Lüge zum Auftakt ihrer Geschäftsbeziehung ihn beschämt. Er würde bald heiraten und dies sei sein Junggesellenabschied. Bullshit! und das weiß sie ziemlich sicher auch. Er und seine Kumpels haben sich diese beschissene Geschichte als Begründung ausgedacht. Warum eigentlich? Sie brauchten keinen vorgeschobenen Grund, um an diesem Abend zu saufen, sie haben es einfach getan. Sie brauchten auch keinen vorgeschobenen Grund, zu rauchen und haben es einfach getan. Aber als sie im Laufe des Abends keinen Stich landen konnten, es aber gerne wollten und dafür den Geldbeutel aufmachten, da brauchten sie auch plötzlich eine konstruierte Geschichte, um daraus eine Rechtfertigung zu ziehen. Er ist sich sicher, sie hat im Laufe der Jahre zu viele Männer kennengelernt, um das nicht zu erkennen und deshalb zweifelt er ihre Worte an, denn wieso sollte sie ihm jetzt die Wahrheit erzählen, und er schämt sich für die eigene Geschichte. Dass er sie für ein bisschen gemeinsame Zeit bezahlt hat: Scheißegal! Dass er in der halben Stunde nicht zum Höhepunkt gekommen ist: Scheißegal! Aber eine Professionelle anzulügen, das macht ihn ein Stück weit fertig, denn er hätte ihr überhaupt keine Geschichte auftischen müssen, so funktioniert das Geschäft nicht. Es ging ihm und seinen Freunden nur darum, das eigene Handeln irgendwie vertretbarer erscheinen zu lassen, um sich selbst dabei ein wenig besser zu fühlen und dass das kompletter Schwachsinn war, wird ihm jetzt bewusst, während er ihr halbwegs aufmerksam zuhört. Sie scheint ganz nett zu sein, privatwirtschaftliches Interesse hin oder her. 

Er drückt seine Zigarette im Ascher aus, verabschiedet sich von ihr und setzt sich zu zwei seiner drei Freunde auf der Couch im Eingangsbereich. Sie beschließen noch ein wenig auf den vierten zu warten. Er wälzt weiterhin die Gedanken in seinem Kopf von A nach B und wieder zurück. Seine beiden Freunde wollen wissen, wie es bei ihm lief. "Alles super!" warum jetzt mit dem Lügen aufhören, das hat auch bis nach dem Schlafen Zeit. Eine halbe Stunde vergeht, bis sie in ihren Straßenklamotten an der Couch vorbei kommt. "Und wie war mein Kumpel?" poltert es aus einem der beiden anderen heraus. Sie versichert er sei ganz toll gewesen und streichelt ihm dabei über die Schulter, als wüsste sie über jede Kleinigkeit in seinem Kopf Bescheid. Er beschließt eines Tages zurückzukehren und ganz ehrlich, vor allem zu sich selbst, dem ganzen Konzept noch eine Chance zu geben.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Wohngeldantrag

ich glaub, ich gehör zu 'ner neuen generation von klugen menschen
die zwar ums verrecken niemals ein studium beenden
und ihre zeit stattdessen mit was gutem verschwenden
abwechselnd am bier nippen, an eis und tusen lecken
nach dem ersten schluck verlier ich schnell das augenmaß
bis ich es dann ruckzuck einfach laufen lass
als menschgewordener melting pot of pop culture
wart' ich seit zehn jahren drauf, dass ich auch mal im kopf alter
meine vorbilder heißen halt immer noch P.O.S., Slug und Scroobius Pip
und so lang die welt mir auch weiterhin munition gibt
such' ich mir doch lieber wieder 'nen wohngeldantrag raus
und füll ihn irgendwann sogar mit rotgelben markern aus
bis dahin verhält sich meine bartlänge antiproportional zur anzahl ficks, die ich gebe
also wenn ich unrasiert bei dir aufkreuz', rechne dir aus wie wichtig ich dich nehme
immer nur ich, ich, ich. mein leben ist nunmal ein einziger langer egotrip
meine wortwahl der grund, dass es für mich manchmal schläge gibt
 immer nonchalant entlang der grenze zur beleidigung
erschein ich in tüll und samt bei meiner steinigung
denn das leben ist nix weiter als ein scheiß witz
doch wenn man mit sich selbst halbwegs im reinen ist
ist einem zumindest auch nix, aber wirklich gar nix mehr peinlich
 egal ob saufen im park früh um halb zehn
oder auf arbeit zum frühstück einen dreh'n
das muss man verstehen, ich grenz mich nunmal krankhaft ab
und erschlag fitnessfreaks zwischen zwei sets mit der hantelbank
und verdammt ich will auf arbeit keine lust bekommen
mir reicht der verfickte nullachtfuffzehn-job
hauptsache ich hab genug geld zum fressen und scheißen
jeden tag meine paar bier und genug zeit, um texte zu schreiben
über das spiel aus attitüden, plattitüden, partylügen und ein paar intrigen
nsonsten leb' ich den kategorischen imperativ, hab das recht dir eine reinzuhauen
denn schließlich will ich auch aufs maul, wenn ich scheiße bau
und so üb' ich schon seit jahren den harten blick
doch fürchte, meine augen verraten
fuck it! das leben kennt keinen zusammenhang oder 'ne katharsis, nur weil sie filme haben
also warum sollt' ich in einem text plötzlich mehr als den klaren cut wagen

Freitag, 16. Dezember 2016

Operation Zefram Cochrane



ich ziehe durch die straßen, freudestrahlend
denn mein größter wunsch ging in erfüllung, eines abends
während sich die supermächte an ihrer beute labten
hatte die atomlobby einfach die schönste leuchtreklame
und während die isotope in meinem körper zerfallen
hört man meine letzten worte über den wörthersee hallen
das verstrahlte bier in der hand, jodtabletten übers wasser schnippen
sitz ich da und genieß den sonnenuntergang mit meinen achtzehn titten

mein neuer lifestyle: bester, letzter mensch auf erden

meine aufgabe: noch ein kleines bisschen besser werden

denn nach dem sturm kamen die marodeure
jetz zieh'n sie mit ak's richtung abendröte
priester dirigieren im kampf gegen sie knabenchöre
doch die zukunft ruht auf den schultern der tagelöhner
und ich betrachte die szenerie von meinem felsvorsprung
blick in den sonnenuntergang, selten war die welt so bunt
wie nach dem kollaps, denn ich hab charlene an meiner seite
es gibt viele wie sie, doch sie ist meine
doch so glücklich ich bin, ich würd töten für 'ne hand voll klopapier
auftritt der verrückte, um mir wieder zu erzählen, wir wär'n alle hutmacher hier
ich erwider nur, weißte noch ice cube sagte mal every hoods the same
vermisst du nicht auch, dass die zeugen sonntag nachmittag klinken putzen gehen
immer kurz nachdem mutti wie einst die feddersen ruft die wanne is' voll
man aber grad in dem moment dann nicht mehr weiß, ob man da jetz wirklich baden soll
doch das alles ist jetzt scheinbar lang schon vorbei
ist das das gelobte land oder doch nur folge der atombarberei
und er zuckt mit den schultern, ganz wie ich's schon erwartet hatte
"lösch das feuer vor einbruch der dunkelheit du schiebst heut' die erste wache"
und ich schmieg mich an charlene, in mein provisorisches schlaflager
die munition ist gold wert also denk ich nochma ans grundlagentraining in krav maga
und denk so bei mir, früher waren römische münzen leumundszeugen für geschichtsschreiber
die zukunft im blick, made in china im hinterkopf, erkenn ich ein taubstummer blinder bringt einen da nur bedingt weiter
also nehm ich mir vor meine version meiner zeit festzuhalten, was war, wie es kam
jede zeit braucht doch 'nen guido knopp und ganz besonders in diesen tagen

nur das eigentliche ziel darf mir dabei niemals nie nicht aus dem kopf geh'n
wir müssen das morgen retten, 'ne arche bauen - operation zefram cochrane
naja ich kann ja vielleicht erstma kurz zusammenfassen
wie die dinge in der rückschau hier zusammenpassen
die borg-königin kam nicht aus der zukunft, sie versteckte sich in einem ipad
studierte menschliches verhalten, hat den aufstand der maschinen vorbereitet
mit einer selbstverbessernden gratis-app namens skynet
ja sicher klingt weit hergeholt, aber von der wahrheit kein fuß breit weg
die maschinen haben uns nie als batterien gefarmt und enteignet
sie wurden vorher durch den elektromagnetischen impuls schnell beseitigt
denn die selbstverbessernden künstlichen intelligenzen schufen sich ein klassensystem
wir richteten die waffen auf sie, ließen die bombe fallen, dann war in jeder maschine ganz kurz ein mensch zu sehen

und jetzt streifen wir durch steppen, wo früher einmal städte waren
strahlungswetter und nuklearer winter sind die letzten verbliebenen wetterlagen
doch inzwischen bahnt sich das grün hier und da den weg durch staub und asche
durch die reste von asphalt und teer und die fasaden der grauen platte
ein schimmer hoffnung in einer welt gefressen von der eignen schöpfung
der ich auch angehör bis mich der kampf niederstreckt oder meine erschöpfung
bin nicht sicher, will ich das beste für mich oder doch für die zukunft?
weiß nur ich muss nach montana, cochranes raketensilo meine einzige zuflucht

Mittwoch, 7. Dezember 2016

Reden ist Schweigen, Silber ist Gold

Als sie den Raum betritt, ist er gerade intensiv damit beschäftigt, eine Pizza auf der Fensterscheibe zu verteilen, sodass die Käsefüllung aus dem Rand gemischt mit der Tomatensauce und dem Fett des Belags an seinen Unterarm entlang rinnen. Sie nimmt auf dem Stuhl an der ihm gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz und beobachtet sein Treiben, als er sich plötzlich auf einem Fuß umdreht, über die Rückenlehne des zwischen Fenster und Küchentisch stehenden Stuhles steigt, sich hinsetzt und sein Bier vom Tisch zum Mund führt. Sie muss schwer an sich halten, bei seinem absurden Verhalten nicht in Gelächter auzubrechen. Er sieht sie schief an, als er sich den Mund mit dem Unterarm abwischt.
Sie - ohne zu wissen, was sie sonst tun sollte - spricht ihn an: "Na? Dir scheint die Party ja auch super zu gefallen."
Er atmet tief ein und aus, bevor er sich eine Zigarette in den Mund steckt und anzündet. Sie fährt fort, dass sie ja auch lieber alleine zuhause trinke statt auf WG-Parties rumzuhängen, aber dass man ja ab und zu dem Stigma entkommen müsse. Er lässt schweigend den Rauch aus seinen Lungen entweichen, während sein Blick unablässig zwischen zwei Punkten knapp über und unter ihren Augen hin und her springt. "Du bist nicht gerade der gesprächige Typ oder?! Naja, besser als ein Schaumschläger. Darf ich mir auch 'ne Zigarette drehen?" Er schiebt sein Drehzeug über den Tisch zu ihr und ext einen Kurzen, der vor ihm auf dem Tisch steht. Sie beginnt zu drehen, er nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette. Als sie fertig ist, rollt sie ihm die Kippe zu und dreht sich selbst noch eine, sodass sie zeitgleich ihre Zigaretten anzünden.

Da betreten Dick, Doof und der Gastgeber die Küche. Der Gastgeber ergreift das Wort, während sich Dick und Doof hinter dem Stuhl des Schweigsamen positionieren: "Ich hab doch gesagt, dass hier nicht geraucht wird!" Der Schweigsame kotzt, von einer Vorahnung erfasst, in die in einer Schüssel vor ihm auf dem Tisch stehenden Chips. Sie versucht den Gastgeber zu beschwichtigen, dass das alles doch halb so wild sei. "Schatz", der Gastgeber bedeutet ihr mit seiner erhobenen Hand zu schweigen, "halt dich da raus und mach den scheiß Glimmstängel aus!" 
Dick packt den Schweigsamen am Arm, worauf dieser aufspringt und Dick - mit dem Gesicht voran - gegen den Kühlschrank stößt, bevor er ihn zu Boden reißt. Daraufhin tritt Doof dem Schweigsamen von hinten in die Beine, zwingt ihn auf die Knie und nimmt ihn in den Schwitzkasten. Der Schweigsame lässt die Situation kurz auf sich wirken, ehe er einen Uppercut mit der Linken gezielt auf der Kinnspitze des Doofen platziert, der - wohl zu großen Teilen aus Überraschung - sofort zu Boden geht. Der Schweigsame steht auf und streckt sich kurz in alle Richtungen, während der Gastgeber mit einem kurzen Satz sofort ein Messer aus dem Abwasch greift und schreit: "VERPISS DICH AUS MEINER WOHNUNG!"

Der Schweigsame beugt sich über den Küchentisch zu ihr, greift sein Drehzeug, atmet einmal tief durch und verabschiedet sich mit einem tiefen Blick in ihre Augen, dann zieht er die Nase hoch und sieht den Gastgeber an, der sofort einen Schritt zur Seite macht, sodass sich der Schweigsame an ihm vorbei aus der Küche in den Flur schiebt und sich unter verächtlichen Blicken aus der Wohnung drängelt, die Treppen herabsteigt und ins Freie tritt.

Montag, 5. Dezember 2016

Lektionen fürs Leben

Es gibt zwei Dinge, die ich in Star Trek gelernt habe.

Erstens, die Menschheit ist zu unglaublichen Dingen fähig, wenn sie die ganzen marginalen Unterschiede vergisst und die Köpfe zusammensteckt. Die Erkundung des Weltalls, Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit, das Zerlegen von Organismen und Objekten auf subatomarer Ebene an einem Ort, um sie an einem anderen wieder zu materialisieren, die Kolonialisierung fremder Planeten, Kontakt zu fremden Spezies, Krieg mit fremden Spezies, das Führen zermürbender Diplomatie mit fremden Spezies, Geschlechtsverkehr mit fremden Spezies, die Abschaffung des Geldsystems, frische Mahlzeiten aller Art in Sekundenschnelle, Trouble mit Tribbles, sexy Spitzohren in ihrer Mitte akzeptieren genau wie Leute mit Stirnwulst, Nummer 7 von 9 integrieren, Frauen statt in zu kurze Röcke in komische Hosenanzüge stecken und natürlich noch mehr Sex mit fremden Spezies.

Zweitens, dass es für all das selbst in Star Trek erst der beinahe vollständigen Vernichtung der Menschheit durch sich selbst im atomaren Feuer bedarf.

Vielleicht sind Vulkanier wirklich die besseren Menschen.

Dienstag, 29. November 2016

Eine Weihnachtsgeschichte



Heiligabend gegen zweiundzwanzig Uhr, er steht mit einer Zigarette und einem Bier am geöffneten Küchenfenster, still ruht die Straße unter seinem starren Blick. Hinter mehreren Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite blinken Weihnachtsbäume und Schwibbögen strahlen vor sich hin in die Dunkelheit. Doch sein Blick ruht auf drei nebeneinander liegenden, zum Lüften geöffneten Fenstern im ersten Obergeschoss. Die Vorhänge sind aufgezogen. Eine junge Frau mit langen braunen Haaren läuft in Dessous von einem in das andere Zimmer, während eine zweite eine Gesichtsmaske aufgetragen und nur mit einem Slip bekleidet Zähne putzt und eine dritte gerade in ihren pink-weißen Jogginganzug schlüpft. Da taucht an einem der Fenster eine Frau von etwa Mitte Vierzig auf, lehnt sich heraus und zündet sich eine Zigarette an. Ihr Blick trifft seinen und er prostet ihr zu. Sie winkt desinteressiert zurück. In den folgenden Minuten dreht sie ihren Kopf in unregelmäßigen Abständen nach links und rechts und hält Ausschau nach den letzten, potentiellen Kunden im Weihnachtsgeschäft, denn in der Wohnung im ersten Obergeschoss werden Wünsche, Vorstellungen und manchmal gar Träume verkauft. Die jungen Freelancerinnen haben inzwischen alle in ihre Feierabendgarderobe gewechselt. Er nippt an seinem Bier und wägt ab, ob er sich schon ein neues aus dem Kühlschrank holen sollte, nimmt einen letzten Zug von der Zigarette, bevor er sie in die Dunkelheit schnipst und sofort Tabak, Papers und Filter aus der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers zieht. Sein Blick ist währenddessen weiter auf die Wohnung fixiert, er weiß nicht, ob oder was er sich davon verspricht, doch er kann seinen Blick nicht abwenden, er verspürt keine Erregung, keine Abscheu oder Bewunderung für die Arbeit der Frauen. Im Grunde spürt er nichts außer dem sinkenden Füllstand in der Flasche, der Angst vor dem Wissen nur noch zwei weitere im Kühlschrank zu finden und schlechten Wortspielen, die durch seinen Kopf schießen.

Den Baum aufstellen.

Die Gans stopfen.

Die Wiener in den Kartoffelsalat stippen.

Schöner die Glocken nie klingen.

Das Geschenk auswickeln.

An der Zuckerstange lecken.

Er ext das letzte Drittel Bier, stellt die leere Flasche aufs Fensterbrett und dreht sich eine Zigarette. Er hat längst aufgehört zu zählen, doch der blaue Dunst wabert durch die Küche, als seien es zu viele gewesen. Er sieht wie die drei jungen Frauen mit Essen vom Lieferdienst auf dem Bett Platz nehmen, die ältere am Fenster blickt ihn starr an und gibt ihm – als hätten das Nikotin, die Kälte und seine bedauernswerte Gestalt sie milde gestimmt - durch einen Wink mit der Hand und einem mitleidigen Gesichtsausdruck zu verstehen, er solle zu ihnen rüberkommen. Er starrt aus leeren Augen auf sie und das Fenster, dann dreht er seinen Kopf zurück und sieht sich in seiner Küche um. Der Tisch liegt voller Papiere, Kronkorken, Tabakreste und Staub. Auf dem Herd steht ein Topf mit kalten, angetrockneten Nudeln, hinter der Küchentür stapeln sich die Plastetüten vom Dönermann. Dann fällt sein Blick auf den Kühlschrank. 'Zwei Bier' hallt es durch seinen Kopf. Er macht einen Schritt zurück, schließt das Fenster und die Vorhänge, dreht sich um und geht zum Kühlschrank. Er öffnet ihn, greift sich das vorletzte Bier und lässt die Tür wieder zu schwingen, die halb aufgerauchte Zigarette klemmt zwischen seinen Lippen und er fummelt das Feuerzeug aus der linken Tasche seiner Jogginghose, um damit die Flasche zu öffnen. '24.12., vierundzwanzig Flaschen in zwölf Stunden. Job well done. Und sogar noch eine zum Frühstück in Reserve. Sich zu verzählen hat doch sein gutes' denkt er sich und verlässt mit dem Bier in der Hand und der Kippe im Mund die Küche, macht noch einen Abstecher ins Bad, stellt sich vors Klobecken und lässt es laufen. Nach einem letzten, tiefen Zug lässt er die Kippe in die Schüssel fallen und drückt die Spülung, während er gleichzeitig einen großen Schluck aus der Flasche nimmt. Er verlässt das Bad und geht ins Schlafzimmer, wo er sich rücklings aufs Bett fallen lässt. Ein Schwapp flüssigen Goldes trifft die Laken und er starrt zur Decke.

Freitag, 25. November 2016

Blasentee

ihr steht auf hippiekommunen und blasentee
ich renn' mit sovietflagge runden durchs KaDeWe
und frag mich, hab ich vielleicht den biss verloren
im angesicht der welt und ihrer verfickten normen
alles wird bewertet entlang dieser einen linie egal ob angepasst oder antikonform
alles nur eine spielform und ich führ' mein leben halt eher wertfrei
obwohl...schöner töchter and're mütter ficken, find ich sehr geil
und das mein ich noch nicht mal als punchline
ich geh erst richtig auf, wenn ihre gören mich anschrei'n
ja gut und rechte aufklatschen find ich auch nicht so verkehrt
die haben schließlich selbst gewählt, welchen spast man in deren kreisen so verehrt
und ich hab halt schon immer lieber schellen verteilt statt scheiße zu reden
und genauso auch schon immer lieber gesoffen, als feiern zu gehen
aber nicht, dass wir uns da jetzt falsch verstehen
ich bin kein sprinter, ich bin marathonsäufer
früh um vier das erste bier und dann immer so weiter
nehmt mir dieses vergnügen und das leben hat den sinn verloren
dann bleibt mir nur noch lippenherpes verteilen an spasten, die kippen schnorren
und zu behaupten, ich wär hardliner und ließe mich wirklich nicht verformen
deswegen behaupt' ich ja auch, ich wär beziehungslegastheniker
und bindungen in allen lebensbereichen interessierten mich eher weniger
ehrlich gesagt, sollten's gar keine one night stands werden, doch ich nahm stets reißaus
fand ich dann die vice oder neon auf dem wg-scheißhaus
die wahrheit ist viel leichter als man denkt. ich bin ein häufchen elend
und hinter der misanthropie träum' ich nicht nur von suff und kiff sondern von freudentränen

Mittwoch, 23. November 2016

Spätsommer



Er sitzt auf der Bettkante, der Schweiß läuft ihm im Rücken zusammen und herab in die Porinne. Zwischen ihren Brüsten bricht sich das Licht in den Perlen aus Natrium, Harn und Wasser. Durch die angekippten Fenster zieht der Gestank der aufgeheizten Stadt herein. Er wünscht sich Regen. Dauerregen. Zehn Stunden durchgehend - mindestens - um darin den Gestank und Dreck und die Erinnerungen wegzuspülen und endlich Abkühlung zu erfahren. Seit drei Wochen fallen die Temperaturen nur noch nachts knapp unter fünfunddreißig Grad. Er kann unter solchen Bedingungen weder essen, noch schlafen geschweige denn klar denken und nur mühselig gelingt es ihm sich mit lesen und fernsehen abzulenken und seinen Geist zu zerstreuen. Er ist wie gelähmt. Drei Wochen. Drei Wochen Hitze. Drei Wochen Trockenheit. Drei Wochen absonderlicher Gestank. Und nun liegt sie neben ihm und er beneidet sie. Während ihm der Schweiß in Strömen am Körper herabfließt und die Hitze ihm das Hirn weichkocht, liegt sie da und die glänzenden Perlen beginnen auf ihrem verblassenden Leib zu trocknen. Er genießt die Ruhe und doch fehlt ihm etwas. Ihm fehlt ihre Stimme. Ihre sonore Stimme. Ihr zuweilen melodisches Säuseln in seinem Ohr, ganz gleich ob nach dem Akt oder zwischen zwei Zigaretten. Er legt seinen Kopf auf ihre Brust und lauscht der Stille ihres Herzens, während er mit seinen Fingern über ihren nackten, noch klammen Körper streicht und aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite blickt. Er weiß, er sollte die Vorhänge schließen, doch er weiß auch, dass er sich nicht von ihr entfernen will - nicht von ihr entfernen kann - nicht einmal für einen kurzen Moment. Wenn er schon nie wieder ihre Stimme wird vernehmen können, so will er wenigstens den letzten Rest ihrer entweichenden Existenz in sich aufsaugen, ihre letzten Funken Energie. Er schließt die Augen. Die Hitze und die Anstrengungen der letzten Stunde haben ihn schläfrig gemacht...


Als er wieder aufwacht ist die Farbe aus ihren Lippen gewichen ebenso aus den Fingerkuppen. Die Venen zeichnen sich deutlich an ihren Armen ab, um ihren Hals hat sich ein blaurotviolettes Band gebildet. Er würde sich gern noch einmal mit ihr unterhalten. Über dieses und jenes. Über Gott und seine Welt. Über das Warum und Weshalb. Er streichelt ihre kalten, blassen Schenkel und küsst ihren Bauchnabel. Das hat er schon früher gern getan. Er schließt die Augen und beginnt zu erzählen, warum er nicht daran glauben kann, dass sie keine Zukunft hätten und warum er glaubt, der letzte Akt zwischen ihnen hätte anders ausgehen können. Er wisse, dass es immer ein Spagat für Sie gewesen sei und dass er es leichter habe. Er bestätigt ihr noch einmal er wolle keine andere, keine jüngere, keine schlankere und vor allem keine blondere, doch sie hört ihm gar nicht zu. Sie liegt reglos da und harrt aus, während er sich echauffiert bis er sich damit abfindet, dass sie beide trotz allen Gemeinsamkeiten und vereinenden Unterschieden keine Zukunft mehr haben werden. Ihm läuft eine einzelne Träne über die Wange.