Montag, 25. September 2017

Traumwandler



Sandra liegt auf ihrer Couch. Embryonalhaltung. Der Tee dampft im Halbdunkel und verwandelt den Raum, gemeinsam mit den Vanilleduftkerzen, in ein olfaktorisches Martyrium. Die Farbe trocknet auf der Leinwand. Sie weiß, sie hat es wieder nicht geschafft.

Sandra verteilt die Farben auf der Palette, legt sie auf dem Pult ab, das sie schon bereitgestellt hat. Sie baut die Staffelei auf. Die Sonne fällt durchs Fenster auf die Skizze, die sie an die Wand gepinnt hat. Sie hat einen Traum. Legt sorgfältig Pinsel, Spachtel, Tücher bereit. Das Wasser im Becher wirbelt noch, als sie den Pinsel eintaucht. Schaffenskraft durchströmt jede ihrer Fasern. Sie nimmt die Farbe auf. Der erste breite Strich färbt die Leinwand. No mistakes, just happy accidents, fährt es ihr durch den Kopf. Nicht verkrampfen. Einfach geschehen lassen, fließen lassen. Schaffen. Etwas. Größer als sie selbst. Beständiger als sie selbst. Die Zeit überdauernd.
Ihr Handy vibriert auf dem Couchtisch hinter ihr. Sie geht nicht ran, nimmt es kaum wahr. Lässt es klingeln. Dann wieder Stille. Nur die Striche auf der Leinwand sind zu hören. Die Autos auf der Straße vor dem Fenster. Fast wie Meeresrauschen.
Strich.
Strich.
Strichstrich.
Strich.
Ein Schritt zurück. Pinsel ausspülen, ablegen. Neuer Pinsel. Schmaler. Neue Farbe. Und wieder Strich.
Strich.
Strich.
Strichstrichstrich.
Strich.
Strich!
STRICH!
Sie wirbelt über die Leinwand wie in Trance. Die Zeit verfliegt. Jeder Strich ein Stück dem Ende entgegen. Nicht konsumieren. Schaffen. Perfektion. Ziel. Traum. Anspruch. Kein Bewusstsein mehr. Besessenheit.
Strich.
Strichstrich.
Strich.
Bis zum letzten Pinselstrich. Dann Erwachen. Betrachten. Zurück wanken. Bewerten. Ernüchterung. Perfektion ist Ziel, ist Traum, verfehlt Anspruch, wird Albtraum.

Das abgehangene Fleisch verwandelt den Raum in ein olfaktorisches Martyrium. Sandra hängt von der Decke. Die Füße baumeln in der Luft. Ihre Bilder sind an den Wänden entlang aufgereiht. Und während die Feuerwehrleute den Strick entknoten, betrachtet einer der Rettungssanitäter ihre Galerie der gescheiterten Erwartungen an sich selbst. Er kann den Blick nicht abwenden. Er will jedes ihrer Bilder in seiner Wohnung aufhängen, doch er denkt an seinen Schwager. Galerist. Späte Ehre. Vernissage. Finanzkraft. Käufer. Leichenfledderei. Erfüllung eines Traums. Ihres Traums? Seines Traums? Deren Träume?

Das Bild hängt am Kopfende eines Bettes am anderen Ende der Stadt über dem schlafenden Rettungssanitäter und in seinen Träumen wandelt er zwischen ihren Strichen.