Sonntag, 16. Juli 2017

Käfig



Sie ist bequem geworden. Seit sie den neuen Kerl hat. Sie war mal ein wildes Tier, dem er erst austreiben musste, die Gegnerinnen im Käfig zu verbeißen und ihnen das Gesicht zu zerfleischen. Doch sie hat ihre Wut verloren. Kein Wunder, dass sie in letzter Zeit keine Kämpfe mehr gewonnen hat. Sicher, hier feiert sie noch immer jeder. Lokalmatador eben. Mag ja sein, dass sich das gut anfühlt, aber sie schiebt's doch längst nur noch vor, um sich keinen neuen Herausforderungen stellen zu müssen. So kann das nicht weitergehen. 

Bis vor kurzem hat sie noch täglich Extraschichten geschoben, jetzt kann er schon froh sein, wenn sie überhaupt zum Training kommt. Sie ist da auch kein bisschen kritikfähig. Würde sie ihm wenigstens eine mitgeben, ihn anschreien, die Halle zerlegen, aber sie blockt bloß ab. Wirft ihre große Chance weg. Hätte 'nen Titelkampf in Aussicht gehabt, stattdessen geht sie schön essen. In der Sauna entspannen. Das schöne Leben genießen. Ihr Talent weiter in Dorfzentren und Mehrzweckhallen verschwenden. Er hat das selbst schon durch. Hat damals die Sicherheit gewählt, statt alles auf eine Karte zu setzen. Aber sie will das eben nicht hören. "Lern doch aus meinen Fehlern, Mädel, statt sie zu wiederholen", hat er gesagt. Sie ist dann einfach abgehauen. Nicht wirklich. Nicht wutentbrannt raus gestürmt. Nein. Einfach schweigend davon geschlurft nach dem Training. Am nächsten Tag hat sie so getan, als wäre nix gewesen.

Wer weiß, ob sie heute überhaupt noch kommt. Er sieht auf die große Uhr an der Wand, schon 'ne viertel Stunde zu spät. Das gibt Extrarunden. Scheißegal, dass Minusgrade sind. 

Verliebt? Schön und gut. 

Rosarote Brille? Fein. 

Aber irgendwann ist auch mal wieder gut. Wenn sie ihre Chance jetzt nicht nutzt, kann sie's für immer vergessen. Statt der großen Welt gibt's dann nur noch Dorffeste, Regionalmeisterschaften. Eines Tages macht der Körper nicht mehr mit, dann ist Schicht im Schacht. Arbeiten wie jeder andere, Trainerschein machen und die Dorfjugend trainieren. Wer im Käfig keine große Nummer war, wird's auch draußen nicht mehr. Sie hat mal gesagt, sie würde alles geben für die eine Chance. Noch gar nicht so lange her. Aber neuerdings ist sie glücklich mit dem, was sie draußen hat. Der Biss kommt nicht mehr wieder...

Er schaltet das Radio ab, macht die Lichter aus und schließt die Halle hinter sich ab. Morgen, vielleicht. Vielleicht morgen. Vielleicht ist morgen beim Probetraining ja wieder so ein Talent dabei. Vielleicht sogar eins, das klüger ist als er und sie. Eins, das wirklich nur für den Käfig und die eine Chance lebt.

Donnerstag, 13. Juli 2017

Erotik


Vorrede: Ich habe viel in Sachen Erotik nachgedacht, nachgemacht, vorgeturnt, zugehört und zugesehen. Von den tiefsten Tälern des Internets, über Schlafzimmer, Bahnhofstoiletten, H&M-Umkleiden, Swingerclubs und Hundezwinger bis auf die höchsten Höhen von Puffmatratzen hat mich mein Weg geführt. Und die Quintessenz meiner ebenso vielseitigen wie vielschichtigen Erkenntnisse habe ich nun in einem epochalen Gedicht mit dem Titel Erotik niedergeschrieben:








Er zieht die Socken aus!










Samstag, 8. Juli 2017

Ringecke



Er liest die Menschen wie damals seine Gegner im Ring. Körperlicher Zustand, Muskeltonus, die Bewegungsabläufe, aber das ist nicht das Wichtigste. Er achtet auf ihre Blicke, kleine Gesten, ihr Lachen, den Klang ihrer Stimme und ihre Wortwahl, wenn er ihnen gegenübersteht. Es sind all diese Feinheiten, die sie verraten. Die ihn wissen lassen, wie er sie anzupacken hat. Eine wertvolle Fähigkeit in seinem Beruf. Auch, dass er ihn zwar im Laufe der Jahre oft hinhalten musste, aber nicht auf den Kopf gefallen ist. Er hat einfach ein Gespür für Menschen und weiß, wie er sie anzupacken hat. Sicher schadet es da nicht, nicht wie der klassische Schläger zu wirken. Er ist klein für einen Mann und drahtig. Er hat oft darüber nachgedacht, sich aber nie tätowieren lassen. Seine Nase ist ihm, wie er immer wieder verwundert feststellt, nie gebrochen. Seine Augen wecken Vertrauen in den Menschen und seine Stimme beherrscht das gesamte Repertoire von aggressiv bedrohlich bis hin zu sirenengleicher Betörung. Manchmal glaubt er, für seinen Beruf geboren zu sein. Beruf und Berufung. Und, wie erwartet, jammert der Kerl vor ihm in der Ecke rum. Kerl? Naja, Junge trifft es eher. Die Sorte Mensch, bei der die Daumenschrauben am ehesten ziehen. Der Kleine ist nach ein, zwei Schlägen auch schnell eingeknickt. Sie stehen sich in der Ecke gegenüber. Es fühlt sich fast an wie mit zwanzig, einundzwanzig im Ring. Zwanzig? Einundzwanzig? Wie alt ist das Jüngelchen vor ihm? Sicher keinen Tag älter als fünfundzwanzig.



Er bemerkt gerade noch rechtzeitig, wie der Kleine versucht sich an ihm vorbeizuschieben, drückt ihn zurück in die Ecke und schlägt ihm einen linken Haken auf die Leber. Wie kann man in dem Alter nur schon so fertig sein, dass jemand wie ich in der Wohnung steht? denkt er, als seine rechte Führhand den Solarplexus des Jungen trifft. Er hält dem Jüngelchen einen Vortrag darüber, was es noch alles bedeuten kann, sich von den falschen Leuten Geld zu leihen. Dass, wenn nicht in den nächsten drei Tagen die Schulden beglichen, bald jemand ganz anderes zu Besuch kommen wird. Niemand, der rote Aufkleber verteilt, eher jemand, der die Wanne rot färbt. Der Junge nässt sich ein und heult ihm etwas von den Scheißdrogen und einer sicheren Nummer vor. Wie das Ding dann doch schiefgegangen ist. Er schlägt dem Jüngelchen von oben aufs Jochbein und spürt es brechen.



Er sitzt zu Hause und versorgt seine Hände, sein Kapital. Er kann sich nicht leisten, wegen ihnen krank zu machen. Der Whisky vor ihm auf dem Tisch schimmert gülden im Glas. Nur ein Gläschen. 2 cl. Zum Runterkommen, zum Genießen, die Früchte der harten Arbeit auskosten. Früher, als er angefangen hat, hat er noch mehr getrunken. Heute nicht mehr. Vernebelt den Kopf. Macht den Körper weich. Lähmt die Reflexe. Nur heute mal wieder ein Gläschen, wegen dem Jüngelchen, fast wie damals. Er war noch ziemlich frisch im Geschäft, einer der ersten Aufträge. Auch ein junger Kerl, Anfang zwanzig. Das Gesicht zu Brei geschlagen von der schnellen Eingreiftruppe, wie er sie immer nennt. Die Russen und Kasachen. Spätaussiedler mit Totschlägern und Schlagringen. Immer auf Abruf. Wird den Kleinen von heute wohl auch erwarten. Die kleinen Fische trifft's eben immer am härtesten im großen Teich. Die haben einfach keine Verhandlungsbasis. Warum war er damals überhaupt dabei? Muss die Anlernphase gewesen sein. Jetzt sind die Bilder wieder da, werden schon vorüberziehen wie immer, versichert er sich selbst. Müssen sie auch. Er muss voll bei der Sache sein, wenn er morgen wieder losgeht und unbedingt dran denken aufs Sparbuch für seinen Neffen einzuzahlen. Wer weiß, wie lang das alles noch gut geht.

Sonntag, 2. Juli 2017

Schallmauer



Ich sitze am Bahnsteig und warte auf meinen Zug. Ich muss weg aus dieser Stadt, diesem Land, diesem Leben und seinem Trott. Er müsste jeden Moment kommen, die Flasche ist fast leer, die Schachtel auch.

Früher saß ich oft hier und hab auf den Zug gewartet, um auf Arbeit zu fahren oder mich mit Freunden zu treffen, die alle längst in die große Stadt ein paar Kilometer südlich gezogen sind. Damals sind wir oft zusammen dahin gefahren. Anfangs mit dem Zug, später mit dem Auto. Irgendwann war ich dann einzige von uns im Zug. Jetzt sitz ich wieder allein hier und warte. Ich will mich nicht mit ihnen treffen, ich warte nur. Er müsste jeden Moment kommen, das Signal steht schon auf gelb. Ich bin lange nicht mehr Zug gefahren und eigentlich hab ich auch heute keinen Grund. Hab hier in der Stadt einen Job und die Freunde von damals längst einen nach dem anderen verprellt.

Ich denke wieder darüber nach, was in letzter Zeit, den letzten Jahren, falsch lief bei mir. Ich trinke den letzten Schluck und schnippe den Kippenstummel ins Gleisbett. Das Signal springt auf grün. Ich bin allein hier. Die Ansage kündigt die Durchfahrt eines Zugs an. Ich stehe auf und stelle mich zwischen Bahnsteigkante und die weiße Markierung. Ich blicke nach links und rechts. 

Das Surren in der Oberleitung kündigt jetzt ganz deutlich den Zug an und dann erscheint er schon aus der Kurve. Erst die Lok, gefolgt von den Waggons. Ich schließe die Augen und warte bis das Surren und Rattern die einzigen Geräusche werden.  Ich kann die Mauer aus komprimierter Luft, die er vor sich herschiebt, schon spüren. Nur noch ein paar Sekunden. Er hupt, mein Zug.