Dienstag, 8. Juni 2021

Origin Story


 Wir taten, was wir immer taten, wenn wir in der Substanz zusammen kamen. Olli und ich, beide Anfang/Mitte Zwanzig, saßen bei ein paar Bier zusammen, untersetzt mit Mexikanern, Polnischen Raketen und Möwenschiss - großartiges Getränk, Korn mit einer Scheibe Bifi und einem Schuss Mayo.

Schlecht rasiert und viel zu laut waren wir die schlimmsten Waschweiber der Stadt. Der hat mit der geschlafen, die mit dem, während wir mehr oder weniger auf dem Trockenen saßen. Wir bestellten Runde um Runde. Suhlten uns in unserer gekränkten Vorstellung von Männlichkeit. Keiner von uns war reich, was sicher auch am unterschiedlich stark ausgeprägten Konsum verschiedener Substanzen lag. Seit Mama und Papa das Auto nicht mehr bezahlten, war auch Olli Radfahrer. Keiner hatte einen festen Job, er war Student, ich Gelegenheitsjobber in einem Büro. In einer Schlägerei hätte sich keiner von uns behaupten können.

Also fassten wir den für uns einzig logischen Entschluss. Wir würden uns und dem Rest der Welt unsere Männlichkeit beweisen.

Mit käuflicher Liebe.

Während ich die Rechnung zahlte, rief Olli ein Taxi.

Olli nahm auf der Rückbank, ich auf dem Beifahrersitz Platz.

"Wo soll's hingehen?"

Ich drehte mich um und leitete die Frage weiter mit einem Blick der sagte: "Ja? Wohin eigentlich?" Olli gab dem Fahrer eine Straße, keine Hausnummer, der wusste Bescheid. Wahrscheinlich waren siebzig Prozent seiner Fahrten an einem Freitagabend nach 22 Uhr so oder so ähnlich. Er fuhr los und ganz Mann, wie wir waren, entwickelte sich aus dem Stehgreif eine Coverstory. Plötzlich wurde ich zum Amisch und unser grundloses Trinkgelage zum Junggesellenabschied, zu zweit wirkte das auf mich noch trauriger als die Wahrheit. Der Taxifahrer ließ sich aufgrund seiner Orts- und Menschenkenntnis nur zu einer kurzen Bemerkung hinreißen: "Also ich würde für'n Freund ja richtig was springen lassen, statt ins Laufhaus."

Und gerade mal zwei Minuten in meiner Rolle als Zukünftiger einer imaginären Frau ging ich schon voll darin auf. Der Mann habe recht, ich hätte mehr verdient. Olli besänftigte mich, er zahle alles. Den Anfang machte er mit der Fahrt. Ich sollte an diesem Abend kein Geld mehr in die Hand nehmen.

Als Olli zum Geldautomaten ging, folgte ich ihm aus einer Vorahnung. Fünfzig? Würde das reichen? Ich hob siebzig ab, sicher ist sicher, dann zogen wir weiter.

Im Eingangsbereich legte Olli seinen Arm um meine Schulter, bekräftigte erneut seine Aussage, er zahle, und bat mich mir eine auszusuchen. Es war so Fleischmarkt, wie es bei ihm klang. Vor den offenen Zimmertüren saßen die Frauen und boten sich feil. Blond, rothaarig, brünett. Falsche Brüste, kleine. Schiefe Zähne, gerade. Stilettos, Nuttenstiefel. Sie hatten alle ihre USPs. Ich schritt den Gang der Länge nach ab und blieb am Ende bei einer schwarzhaarigen mit gemachten Titten und schiefen Zähnen stehen. Sie erläuterte mir in ihrem osteuropäischen Akzent die Angebotspalette: "50 Euro: zwanzig Minuten Penetration. 70 Euro: halbe Stunde, oral und Penetration", und so weiter und so fort, "Zahlung im Voraus." In meinem Suffkopp kalkulierte ich: halbe Stunde, blasen und ficken, klar, wieso nicht. Ich sah mich um, Olli war nicht zu sehen, also bezahlte ich sie. Ich machte eine gedankliche Notiz, mir das Geld später zurückzuholen. Sie nahm meine Hand und ging mit mir aufs Zimmer, sie schloss die Tür. Dahinter stilgemäßes Dekor: rote, gedimmte Beleuchtung, Doppelbett mit einem roten Laken (wobei irgendwie alles rot aussah), Kondomspender, zwei Sessel, eine Couch, plus ein kleiner Glastisch. Insgesamt besser ausgestattet als meine Wohnung.


Sie bat mich abzulegen und mich schonmal aufs Bett zu setzen, verschwand sie kurz ins Bad.

Als sie wieder rauskam, fiel mir auf, dass ich sie nicht nur geil fand, sondern wegen irgendetwas in ihrer Art, wie sie sich bewegte und sprach, sogar sympathisch. Sie hatte sowas Kümmerndes an sich, etwas fürsorgliches, gänzlich urteilsfrei, ein Gefühl dafür, wie sie mit mir zu sprechen, sich zu geben hatte. Ich tippte auf ein in Deutschland nicht anerkanntes Psychologiestudium im Ostblock. Was es irgendwie noch absurder machte, dass sie jetzt für 70 Euro vor mir kniete und ein Präser über meinen Halbsteifen rollte, noch ehe sie ihn in den Mund nahm. Ich verstand die hygienischen Gründe dafür und war irgendwie auch dankbar meinen Schwanz nicht in direkten Kontakt mit den zwanzig bis zweihundert vorangegangenen des Tages zu bringen, aber diese Professionalität verpasste meiner Libido den ersten Tiefschlag, auch wenn die Bezeichnung Professionelle mir in diesem Moment erstmals im Leben wirklich klar wurde. Sie begann ihre Arbeit und ich ließ mich rücklings aufs Bett fallen. Sie ritt mich, wichste mir einen, sagte mir, wo ich anfassen durfte. Sie tat alles, was der gesteckte Finanzrahmen zuließ. Die Uhr tickte erbarmungslos runter. Wortwörtlich. Ich war unter Druck nie besonders gut. Nachverhandlungen konnte ich mir, trotz der versprochenen Kostenübernahme, nicht leisten.

Mir kam die Stimme meines verstorbenen Trainers in den Sinn: "Letzte Minute läuft!"

"Noch dreißig Sekunden!"

"ZEIT!"

Und schon war es vorbei. Sie wies mich an, die Unterhose wieder anzuziehen, sie würde die Tür öffnen, damit die wüssten, dass alles okay ist.

Die?

Da dämmerte es mir: Die! Angel's World. Alles klar. (Den Wahrheitsgehalt dieser Hypothese habe ich nie überprüfen wollen.) Nach dieser Schrecksekunde bot sie mir an mich im Bad kurz frischmachen zu können, fragte, ob ich einen Eistee möchte. Sie warte dann auf dem Gang.

Ich spülte mein Gesicht kurz ab, zog mich an und ging zu ihr auf den Gang. Sie saß wieder auf ihrem Barhocker. Ich stellte mich neben sie, lehnte mich an die Wand und wir unterhielten uns. Von einer kurzen Umfrage zur Kundenzufriedenheit ging es die nächsten Minuten noch weiter. Ich erzählte von meinem Bürojob und meiner immer noch imaginären Zukünftigen, schließlich war es wichtig bei einer Story zu bleiben. Ich erzählte, dass ich in meiner Freizeit schrieb, und erfuhr, sie sei Näherin aus Ungarn, die in Deutschland keine Anstellung fand und einen Mann wegen ihrem Broterwerb auch nicht. Hätte ich das alles eine halbe Stunde eher gewusst, ich hätte sofort abgespritzt.


Als ich ausgetrunken hatte, ging ich zurück in den Eingangsbereich. Olli war auch schon wieder zurück und wartete auf einem schwarzen Ledersofa auf mich. Er klatschte mich ab, ich behauptete, es sei alles super geil gewesen.


Sie hatte offensichtlich Schichtende, denn sie kam in Jeans und Kapuzenpulli auf uns zu. Olli preschte los: "Na, wie war er?"

Sie streichelte mir im Vorbeigehen die Schulter, wischte so die Scham ein wenig weg, und bestätigte ihm meine sexuelle Kompetenz, dann verschwand sie.

*Erschienen in der großartigen Fettliebe.