Montag, 1. Juli 2019

Spoiler - Ich habe meinen Nachbarn sterben gehört

Es war ein ganz normaler Abend Mitte April. Über mir tobte das Leben, oder viel eher machte das Leben ihn toben. Ich konnte nie herausfinden, ob es zu viel oder zu wenig Stoff war, der das aus ihm heraus kitzelte. Aus diesem hageren Häufchen Elend, diesem Opfer seines eigenen Lebens. Die Augen gerahmt von schwarzen Ringen, die Haut fahl, den kalten Schweiß auf der Stirn wirkte er immer, als kuriere er gerade eine schlimme Grippe aus.
Seine bessere Hälfte blieb, trotzdem er immerfort mit ihr in den allerhöchsten Tönen sprach.

"Schlampe!"

"Fotze!"

"Verpiss dich, du Hure!"

Türen knallten, Teller flogen und zerschellten.
Die Beamten rückten an, nachdem das Mobiliar zerbarst.
An diesem Abend waren die Bullenschweine erstaunlich gern gesehene Gäste im Haus, nachdem alle Beschwerden, alle Gesprächsangebote, alle Drohungen gar an der Wohnungstür verhallten.
Das Blaulicht lud beinah' zum Tanzen ein, die immer gleichen Fragen bildeten die Bassline: "Haben Sie was genommen? Haben Sie getrunken?"
Seine Argumentation drehte sich entgegengesetzt im Kreis: "Hab ich Sie angerufen? Nein! Also, warum reden Sie mit mir?"
Schnell war mir klar, dass er damit die Beamtengemüter nicht besänftigen konnte.
So führten beide Parteien eine ganze Weile ein rhetorisches, höchst eloquentes Tänzchen auf.

"Was ist hier vorgefallen?"

"Das geht Sie gar nix an!"

"Haben Sie was genommen?"

"Das geht Sie gar nix an!"

Und so weiter und so fort.

Dann wurde es verdächtig ruhig. Vom Fenster sah ich die Freunde und Helfer seine bessere Hälfte zum Dienstwagen eskortieren.
Er hatte sich irgendwann wieder gefangen, alleingelassen mit sich in der Wohneinheit.

Später hörte ich die Dusche laufen, dann den Knall von Biomasse auf Keramik. Es folgten Schmerzensschreie in immer länger werdenden Intervallen und das quietschende Rutschgeräusch strauchelnder Gliedmaßen in der Duschwanne. Noch später wurde es, bis auf das gleichmäßige Rauschen in der Wasserleitung, still und ich konnte endlich schlafen.

Als am nächsten Tag niemand dem abgehalfterten Hausmeister öffnete, drehte der prompt den Haupthahn zur Wohnung ab, klebte einen Infozettel an die Tür, man möge sich bei ihm melden.

Auch die nächsten Tage blieb es auffällig unauffällig im Stockwerk über mir. Weder sah noch hörte ich ihn oder sie. Wäre er die Oma aus dem dritten Stock gewesen, ich hätte mich gesorgt, doch so genoss ich wie der Rest des Hauses den faulen Frieden.
Ich weiß nicht mehr, wie lang es dauerte, bis der süßliche, moschusartige Duft der späten Gerechtigkeit seinen Weg durch die verschlossene Wohnungstür ins Haus fand. Bis man ihn in einer schlichten schwarzen Kiste aus dem Haus trug. Bis die Spezialreiniger kamen. Bis endgültig Ruhe einkehrte.