Samstag, 29. September 2018

Sommer in der Stadt


Als er wach wird, hat die Sonne ihren Zenit bereits überschritten. Er wischt sich die Hände am Laken trocken, zieht sich Unterhose und T-Shirt an. Der Geruch der Milchsäure steigt ihm aus dem Wäschekorb in die Nase. Er rafft sich auf, packt den Korb, geht ins Bad und schüttet den Inhalt unbesehen in die Maschine, schlägt die Tür zu und geht weiter in die Küche.



Er spült eine der herumstehenden Tassen flüchtig aus, gießt sich den letzten, kalten Kaffee vom Vortag ein und stellt sich ans offene Fenster. Auf der Straße unter ihm ist es ungewöhnlich ruhig. Er sieht auf die Uhr: 16.43. Eigentlich Zeit für Begängnis, Hochbetrieb, Geschäftigkeit, Feierabendverkehr. Kurz: Montagnachmittag.



Der Himmel babyblau, kein weißer Fleck weit und breit, der die Optik verschandeln könnte. Nur aus der Ferne sind die Schläge der Rotorblätter eines kreisenden Hubschraubers undeutlich zu vernehmen. Auch die Rufe aus dem Stadtzentrum sind nicht zu verstehen, doch er kennt sie bereits. Er weiß, was er morgen in den Zeitungen wird lesen können. Die Arme von einigen zum alten Gruß gehoben, Parolen proklamiert. Er weiß, was darauf folgen wird. Die üblichen Grabenkämpfe in den Kommentarspalten. Alle über jeden Zweifel erhaben. Die einen werden den Mob verharmlosen und die Schuld für die Ausfälle auf gezielte Provokationen der Gegenseite schieben, während die anderen mit einem Vergleich jede Diskussion im Keim ersticken werden. Er verabscheut die - womöglich wirklich - Besorgten für ihre Anbiederung bei den Fahnen schwenkenden Schreihälsen. Doch er will sich nicht zu erkennen geben. Noch nicht.



Er geht zur Küchenzeile, wiegt die Box vom Asia-Lieferservice in der einen Hand, während er mit der anderen eine Gabel aus dem Abwasch greift und setzt sich an den Küchentisch. Die Nudeln haben die Sauce seit dem Vorabend aufgesogen. Das Hähnchenfleisch ist kalt und labberig. Er beginnt die Reste in sich rein zu schaufeln. Draußen rauschen nur sporadisch Autos vorbei. Wer nicht im Stadtzentrum ist, muss wohl noch im Urlaub am Meer, in den Bergen oder auf Malle sein. Er versucht die Ruhe zu genießen, überlegt, wen er anrufen, mit wem er weggehen könnte.



Hans ist sicher mitten im Demozug zu finden. Thor Steinar war bei ihm nicht nur eine Phase schlechten Geschmacks. Olli wird Hans wohl gegenüberstehen, ist er doch inzwischen ganz offen Linker geworden. Keiner von den zündelnden Steineschmeißern. Gutmensch eben. Integration statt Abschiebehaft, immer kontra dem rechten Denken. Aus Prinzip und Überzeugung. Doch er ist noch nicht bereit, sich an Ollis Seite zu erkennen zu geben. Es wird schon vorbeigehen. Wie mit den Hartzern und den Griechen. Abgelöst durch ein neues Feindbild.



Er dreht das kalte Wasser auf, legt sich in die Wanne und beobachtet den steigenden Wasserspiegel. Sein untergetauchter Kopf lässt auch die letzten Außengeräusche verstummen. Er schließt die Augen, vergisst die schwere Luft, verdrängt die aufgeheizte Stimmung. Es wird schon vorübergehen.



Er beginnt zu schweben, sieht die guten alten Zeiten vor seinem inneren Auge. Mit Hans und Olli in der Schule. Keine Sorgen weit und breit. Saufen, feiern, tanzen. Das volle Programm.



Er hört einen dumpfen Schlag, öffnet die Augen, taucht auf. Von draußen hämmert der Regen an die Scheibe. Der Himmel ist grau. Blitze zucken über der Stadt. Das Wetter ist gekippt. Sicher nur ein Moment.

Dienstag, 24. Juli 2018

#ZSMMN

Schwarz, Rot, Gold auf Halbmast
nie mehr früher Feierabend
deutsche Sportler
sind nur erfolgreich
interessant
sind nur erfolgreich
deutsch
bei Siegen waren's wieder alle
#ZSMMN
bei Niederlagen
ist der Türke schuld
und sie flennen rum
dürften nicht mehr
stolz sein
Fahnen schwenken
schuld sind Merkel
und das Holocaust-Gedenken
und der Türke halt
natürlich, sicher, klar
für's schlechte Gewissen
kein Platz mehr
von heut' hat ja keiner was getan
Verantwortung?
schieben sie gleich mit weg
was kümmert schon der Vogelschiss
erfolgreicher Geschichte
niemals vergeben, niemals vergessen
wandeln sie zu nie was gewesen
Ende der Gemütlichkeit
die Kartoffel hatte ihre Blütezeit
fürchtet den Identitätsverlust
dabei war Deutschsein mal so leicht
Juden verfolgen, Parolen schreien
Hier und Da ein Buch verbrennen
den vermeintlich starken Mann
bejubeln
Führer nennen
Danke Merkel!
Danke Özil!

Montag, 9. April 2018

Scheideweg


1.0 Am Scheideweg

Wir sitzen vollgefressen nebeneinander auf dem Boden. Ihre Augenringe sind in den letzten Tagen noch dunkler geworden, ihre Wangen fallen langsam ein, doch selbst so ist sie noch viel schöner, als sie sich selbst zugesteht. Ihr sind ein paar Strähnen ins Gesicht gefallen, während sie von ihrem Tag erzählt und ich bemühe mich wirklich, ihr zuzuhören und alles mitzuschneiden, doch hauptsächlich bewundere ich das Spiel ihrer Lippen beim Sprechen. Letzte Nacht hat es bei mir Klick gemacht. Ich hatte eine Art Epiphanie. Ich habe schlaflos geträumt und weiß nur nicht, wie ich es ihr sagen soll, denn wir sind Freunde. Großartige Freunde. Ganz besondere Freunde. Nein, wir sind Geschwister, die sich vor sechs Monaten erst gefunden haben. Ich will zu gleichen Teilen bewahren, was ist, und ebenso mehr, als wir haben. Ich will sie. Ohne Wenn und Aber, dafür mit Haut und Haar.

Und sie? Erzählt inzwischen nicht mehr von ihrem Tag, sondern ihrer Untervögelung. Sie erzählt, dass sie gerade gern eine Fickbeziehung hätte. Ich horche kurz auf. Nicht mit mir. Gott sei Dank! Das könnte ich nicht, nicht mit ihr. Ich will mehr als das. Sie meint, sie sollte vielleicht diesen oder jenen mal wieder anrufen und einfach sagen, was Sache ist. In mir steigt ein dumpfes Gefühl auf, das sofort meinen aufkeimenden Mut verdrängt und mir sagt: "Sie wird in dir nie mehr als einen Freund sehen. Das passiert dir doch ständig, musste dich doch langsam dran gewöhnt haben. Volltrottel!"

"Wie siehst’n du das?“, ihre Frage reißt mich aus meinen Gedanken.
"Ja, nein, was? Sorry, war grad ganz weit weg.“
Ich gucke auf den Boden, während mir die Schamesröte ins Gesicht steigt. Ich will mich zu ihr rüber beugen. Sie küssen. Will ihr sagen, dass ich verliebt in sie bin, doch die Angst überwiegt und lähmt mich. Die Angst zu verlieren, was wir haben, übertönt die Hoffnung und den Glauben daran, was wir alles sein könnten. Sie ist mir so unbeschreiblich wichtig. Sie ist großartig, auch wenn sie es selbst nicht sieht. Sie vervollständigt mich, sie mindert meine Schwächen und hebt meine Stärken. Wir harmonieren so gut. Wir funktionieren instinktiv und wir könnten ein noch besseres Team sein. Ich kann mir in manchen Momenten ihrer Nähe sogar schon vorstellen, irgendwann mit ihr eine Familie zu gründen. Also vielleicht, irgendwann, wenn das mit uns tatsächlich so gut laufen sollte, wie ich es mir ausmale. Ich schieb den Gedanken beiseite, so weit ist es noch lange nicht. Baby Steps. Immer schön eins nach dem anderen. Vorher sollte sie vielleicht wissen, wie es in mir aussieht.

Ich merke, wie sich meine Zunge verselbstständigt und es aus mir raus bricht.
"Was?!“, entfährt es ihr.
"Ja. Ganz klar."
Sie sieht mich an. Sie sieht mich lange an. Sie sieht mich sehr lange an und ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Sie scheinbar auch nicht und wir sitzen einfach nur da, umgeben von der Schwere einer bevorstehenden Entscheidung.
Vor meinen Augen tut sich der Scheideweg auf…

2.1 Am Scheideweg links

…wir sitzen auf den Fahrradständern vor meiner ehemaligen Trainingshalle. Ich trinke und rauche.
"Ich hätte mal wieder Lust, mich windelweich prügeln zu lassen", ich werfe die leere Bierflasche an die Wand der halb verwitterten Halle . Das Klirren zerreißt die Kleinstadtnacht. Sie legt mir ihre Hand in den Nacken und kneift kräftig zu, wahrscheinlich durchschaut sie mein Mackergehabe schon jetzt.
"Weißt du", ich schlage mit der Faust in die flache Hand, "mir fehlt einfach das Gefühl zu wissen, nicht aus Glas zu sein."
"Du bist bescheuert", sie schüttelt den Kopf.
"Ja, wahrscheinlich, aber was soll ich machen?"
"Du hast einen guten Job und", sie küsst meinen Hals, " eine Frau, die dich liebt. Mehr brauchst du doch nicht."
"Ja. Nein. Doch. Du verstehst das nicht. Mein Opa", ich schnippe meine Zigarette in die Dunkelheit und folge mit meinem Blick der Flugbahn im Dunkeln, "ist in meinem Alter dem Tod schon drei Mal von der Klinge gesprungen."
"Und? Hat ihn das glücklich gemacht?"
Ich schüttele unweigerlich den Kopf. "Nein, aber..."
"Nix aber!", fällt sie mir sofort ins Wort. "Manchmal bist du einfach ein unglaublicher Idiot."
Ich sehe sie mit offenem Mund an.
"Du brauchst gar nicht so zu gucken. Is‘ so!"
"Nein, aber doch. Weißt du", setze ich wieder an, "die Welt ist ein riesiger Abenteuerspielplatz und alles, was ich mach', ist jeden Tag arbeiten gehen und die Feierabende mit der besten Frau der Welt genießen." Ich lächele gequält.
"Und warum ist das schlecht?"
"Weil, weil", ich fuchtele hilflos mit den Händen in der Luft, "weil keine Ahnung! Ich hab einfach das Gefühl, mir geht's zu gut."
"Dein Opa ist gerade mal sechs Stunden unter der Erde und du kreist schon wieder nur um dich." Sie schüttelt enttäuscht den Kopf.
"Oder mein Vater, zum Beispiel, mit seiner Kleinstadtmofagang."
"Was?", fährt sie mich an.
"Na, der hat seine Jugend im Schweinesystem auch voll ausgelebt. Er wusst's halt nicht besser, aber er hat was draus gemacht."
"Und was, bitte, hat das mit deinem Opa oder dir zu tun?"
"Nichts! Absolut nichts und gleichzeitig alles. Verstehst du?"
Sie stützt ihren Kopf auf ihre Hände und blickt ins Leere, während ich mit den Füßen wippe. Ich klemm‘ meine Zigarette zwischen die Lippen, um das nächste Bier aus meinem Stoffbeutel zu greifen.
Ich kann sehen, wie sie aus halb geschlossenen Augen zu mir rüber schielt. "Wolltest du nicht aufhören?"
"Womit?" Ich zucke betont ahnungslos mit den Schultern.
"Na mit dem Trinken und mit dem Rauchen auch."
"Ja, ich weiß", ich atme den Rauch aus und trink‘ einen Schluck, "aber was soll ich machen? Ich bin schwach. Genau das mein ich doch." Ich schnippe die Kippe weg und steck mir direkt die nächste in den Mund. "Ich hab nie gelernt, was durchzuziehen, zu Ende zu bringen, geschweige denn das Ergebnis zu genießen und auszukosten."
 
Sie murmelt, doch deutlich hörbar, das Wort Vollidiot in ihre Handflächen.
"Ja! Ich bin ein Vollidiot! Du hast doch recht!" Ich springe auf. "Im siebten Monat war ich das erste Mal im Gerichtssaal, weil mein Bruder wieder irgendwelche Scheiße gebaut hat. Und seitdem?", ich strecke die Arme zur Seite aus, "Tote Hose! Wär's nur drum gegangen, verknackt zu werden, das hätte ich oft genug haben können. Aber das war mir zu dumm", ich spucke auf den Boden, "ich hatte immer alle Möglichkeiten, aber hab keine genutzt. Und da war nichts, wogegen ich hätte aufbegehren müssen. Meine Eltern sind ganz okay. Oder?" Sie nickt. "Das politische System hier ist auch nicht so richtig kacke. Oder?" Ich sehe sie an, sie nickt wieder. "Verstehst du? Ich hatte nie etwas, wofür oder wogegen es sich zu kämpfen gelohnt hätte!"
Ich merke, wie ich in mir zusammenfalle und meine Wangen feucht werden. Ich setze mich auf den Boden, lasse mich auf den Rücken fallen und bleib im Kies liegen. Sie sitzt auf dem Fahrradständer und sieht mich an. Ich hatte gehofft, sie würde mir den Bauch streicheln, um mich zu beruhigen, wie sonst immer.

"Bist du jetzt fertig?“
"Weiß nich‘“, entgegne ich ihr und blicke zu ihr auf.
"Gut, dann kann ich ja jetzt“, sie nimmt die Zigarettenschachtel aus dem Stoffbeutel und wirft sie in  den Mülleimer neben sich. "Wir sind seit über drei Jahren zusammen. Du hast mir von Anfang an gesagt, ich wäre alles, was du für dein Glück brauchst.“
"Ich weiß, aber…“, versuche ich sie zu unterbrechen.
"Lass mich ausreden!“, sie wird unwirsch, "wir haben eine wunderschöne Altbauwohnung, bringen genug Geld nach Hause, um am Monatsende noch den Kühlschrank voll zu haben.“ In ihrer Stimme schwingt etwas Unheilvolles mit. "Du hast dein Rennrad und dein Auto und wir eine zuckersüße Katze.“
Ich drehe mich auf die Seite und rolle mich wie ein Embryo zusammen, sie muss doch irgendwann reagieren.
"Außerdem lässt dir dein Job genug Zeit dich mit all dem auch noch zu beschäftigen und für dich, mich und Kurztrips übers Wochenende. Nur weil du Angst davor hast, darfst du dir trotzdem erlauben glücklich sein. Ich bin doch immer da, oder etwa nicht?“ Ich schweige. "Aber wenn du selbst nicht willst, dann kann ich dir langsam auch nicht mehr helfen.“ Sie steht auf und geht auf das Ausgangstor zu. Ich liege im Kies und heule, inzwischen so richtig.

Ich springe auf. "Warte!“, mein Ruf ist von Tränen erstickt, doch sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. Ich renne zu ihr. "Es tut mir leid! Ich will glücklich sein, aber ich brauch dich dafür. Bitte geh jetzt nicht.“
Sie nimmt mich in den Arm und streichelt mir den Kopf. "Es tut mir leid, aber ich ertrag‘ gerade einfach nicht mehr, wie du dauernd im Kreis rennst.“
Mir friert das Gesicht ein und meine Arme fallen schlapp nach unten.
Sie setzt nach: "Alles wird gut, es war nie schlecht. Und wer weiß, vielleicht, irgendwann, wenn du das selbst erkennst, aber mir fehlt gerade wirklich die Kraft für ein zu groß geratenes Kleinkind.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange, löst ihre Umarmung, dreht sich um und verschwindet in der Nacht.

2.2 Am Scheideweg geradeaus

…ich sitze am Fenster und schaue in den Garten. Es brauchte ein bisschen Zeit und Hin und Her, doch wir liebten uns dann doch bis ans Ende unserer Tage. Naja, ihrer Tage. Sie ist vor anderthalb Jahren von uns gegangen. Am dritten März, das war ein Sonntag. Ich sehe sie noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. An dem Morgen. Im Bett. Aber ich will nicht klagen, wir hatten ein gutes Leben.
Wir haben es laufen lassen und geschaut, wo es uns hinführt. Jeden Tag aufs Neue. Sicher hatte ich ein gutes Stück Gefühlsvorsprung, aber sie zog dann tatsächlich nach. Nach und nach und dann wurde es nur immer besser. So gut wir als Freunde auch funktionierten, umso besser harmonierten wir als Paar. Es hat sich dann einfach irgendwie gefügt, schätze ich. Aus zwei Wohnungen wurde eine, erst nur so, dann wurden auch aus zwei Meldeadressen eine. Wir haben uns ziemlich schnell eine Katze zugelegt. Dabei war ich nie der Haustier-Typ, aber das süße, kleine Ding hat mich im Sturm erobert.
Und sie? Sie wurde ziemlich schnell dick und immer dicker, so neun Monate lang. Dabei war ich nie der Familien-Typ, aber die Zwillinge haben mich im Sturm erobert.

Wir sind mit den Kindern bald aus der Stadt weggezogen. Die Wohnung war einfach zu klein, der Moloch zu groß und zu laut. Den Kredit haben wir immer brav abgezahlt und nach ein paar Jahren war das kleine Haus im Grünen wirklich unser kleines Haus im Grünen und wir waren mittlerweile zu sechst.

Wir haben gearbeitet und gelebt. Work-Life-Balance nennt man das wohl. Haben gelebt und uns immer geliebt. Glück nenn' ich das. Und die Kinder wurden langsam groß. Dann zog eins nach dem anderen aus, sie bauten sich ihre eigenen Leben auf, bekamen selbst Kinder und wir beide genossen einfach wieder die Zeit zu zweit. Dann ging sie fort, aber ich will wirklich nicht klagen. Wir hatten ein gutes Leben und die Kinder kommen mich manchmal mit den Enkeln besuchen hier in der Residenz. Ich schaff' es einfach nicht mehr allein, hab ich ja schon vor ihr nie, wieso sollte es nach ihr anders sein. Aber ich will nicht klagen. Irgendwann sehe ich sie wieder und bis dahin denke ich daran, was sie mir immer sagte: "Erlaube dir glücklich zu sein."


2.3 Am Scheideweg rechts

...ich sitz morgens kurz vor sechs in der Straßenbahn, dreh' grad die dritte Runde und bin noch immer voll wie 'ne Haubitze. Schon wieder. Es ist jetzt ein oder zwei Jahre her - warum weiß ich das nicht mehr genau? Da seh' ich diesen Typen an der Haltestelle. Diesen Typen in Businesskutte, mit Kippe im Mund. Der muss dran glauben. Solche konnte ich noch nie leiden, besonders nachdem ich selbst so einer war. Ich wanke zur Tür, drücke den Halteknopf und kann meine Mitfahrer aufatmen hören. Wenn er jetzt nicht einsteigt, ist er dran. Ich will ihm nicht aufs Maul hauen, er ist einfach nur dran.

Die Bahn hält, die Türen öffnen sich und ich schwanke schnurstracks auf ihn zu. "Kannste mir eine geben, bitte", ich deute auf seine Zigarette, meine Beine fühlen sich wie Gummi an und ich guck ihm dabei zu, wie er in seiner Jackettasche kramt, während mir die frische Luft gerade beinahe den Rest gibt. Ich hole meine Feuerzeug raus. "Danke." Die Bahn fährt weiter, ich greif nach der Zigarette und steck sie mir in den Mund. Möge das Schauspiel beginnen. Der Stadtteil ist nicht der beste, mit sowas muss er rechnen. Ich zünd' mir die Kippe an und beginne zu erzählen, dass ich mit den Frauen einfach kein Glück habe, dass ich entweder zu lange warte und dann den richtigen Moment verpasse, dass sie mich schnell leid sind oder dass sie mir immer wieder die Freundschaftskeule über'n Nüschel ziehen. Er fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Gut, so soll es sein. Soll er ruhig die Nase rümpfen. Ja! Ich! Stinke! Ich bemerke, wie sein Ehering in den ersten Sonnenstrahlen des Tages funkelt, und begreife endlich, warum die Säufer, Druffis und Penner das früher immer mit mir gemacht haben. Es fühlt sich einfach gut an, einen Wildfremden voll zu schwallen, und man spart sich das Gerenne nach einer Überweisung zum Seelenklempner. Er will weg, das merk' ich, aber seine nächste Chance kommt frühestens in zehn Minuten. Ich zähle ihm erst mal die vielen Male auf, in denen ich nur ein Freund war und wie beschissen es sich anfangs immer wieder angefühlt hat. Er nickt ab und zu und gibt mir aus einer Mischung aus Verlegenheit, Höflichkeit und Angst recht. Ich find's ganz geil, aber sein Weltbild wankt noch nicht. Noch ist seine kleine, heile Welt intakt. Ich zieh' erst zum dritten Mal an der Kippe und blas ihm den Rauch diesmal ins Gesicht. Er würgt kurz, aber ich hab auch Pfeffi gesoffen, so schlecht kann mein Atem gar nicht sein.

"Weißt du", ich huste und rotz' ihm den braunen Schleim direkt vor die Füße, er zuckt ein Stück zurück, "vor ein oder zwei Jahren", ernsthaft, warum weiß ich das nicht mehr?, "hab ich bei 'ner Freundin gesessen. Ey, versteh' mich nich' falsch", ich leg ihm meine Hand auf die Schulter, er schiebt sie weg, "ich war gern mit ihr befreundet, aber ich wollt' halt wieder mal mehr, als ich verdiene." Ich kratz mich im Schritt und rieche an meiner Hand, "wir kannten uns damals schon so'n halbes Jahr und es war 'n gutes halbes Jahr. Wir haben immer mal zusammen gekocht und waren füreinander da und haben uns gegenseitig unsere anderen Freunde vorgestellt." Er sieht hilfesuchend auf seine Uhr. Tut mir leid, Digger, musst schon noch bisschen aushalten. "Und dann war da dieser eine Tag. Für mich war alles klar und dann kommt sie, erzählt mir, ihr wäre die Freundschaft sehr wichtig. Sie sehe mich als Bruder. Ja, sicher! Wo is' sie denn jetzt? Lässt ihren Bruder allein." Er scheint tatsächlich sowas wie Mitleid zu spüren in seiner Angewidertheit. Die Kippe ist mir inzwischen ausgegangen. "Weißte, ich hab echt viel Liebe zu verteilen, aber ich such mir scheinbar immer die falschen dafür aus", ich zünd' die halbe Zigarette wieder an, "ich hab echt alles versucht. Ich war rund um die Uhr für sie da, hab ihr Geschenke gemacht. Ich hab ihr immer wieder gesagt, was sie mir bedeutet und sie hat mir was von Abstand erzählt. Ja, okay. Vielleicht hab ich sie paar Mal im Suff angerufen und nachts bei ihr geklingelt, aber dann hab ich's echt runtergeschluckt. Verstehste? Ich war echt bereit, nur ein Freund für sie zu sein. Und weißte was? Da war sie dann plötzlich weg", ich lache, eigentlich huste ich mehr, als dass ich lache, "hab dann ewig nix mehr von ihr gehört." Er sieht über meine Schulter und ich blicke mich kurz um. Da kommt ein Bus. Er nimmt ihn ins Visier. Jetzt schnell nochmal nachlegen, "was soll ich denn nur machen?" Zum Abschluss lallt es möglichst pathetisch aus mir raus: "Ich will auch sowas." Ich deute auf seinen Ehering. Er bedeckt ihn sofort mit seiner anderen Hand, ich stehe ganz dicht vor ihm und seh' ihm in die Augen. 

Er schnippt seine Zigarette an mir vorbei in den Rinnstein, macht einen Schritt zurück und rückt seine Umhängetasche auf der Schulter zurecht, "tut mir ehrlich leid, das zu hören", er drückt mir zwei Zigaretten in die Hand. "Pass auf dich auf, okay? Und viel Glück." Er springt förmlich in den Bus und ich verzichte darauf, mitzufahren. Er hat für heute genug gelitten und ich muss sowieso erst mal in Ruhe rauchen.

3.0 Am Scheideweg zurück

...sie sitzt neben mir auf ihrer Couch und wir gucken irgend einen Film. Die Lasagne ist im Ofen. Wir kochen endlich mal wieder zusammen. Es ist ziemlich genau ein halbes Jahr her. 

Erst hab ich ins Leere gedacht, hab gesoffen und geraucht, dann hab ich mit anderen geredet und mir Rat geholt. Bin noch ein paar Mal vorgeprescht und wieder zurückgefallen. Dann hab ich irgendwann innegehalten, die Situation wirklich reflektiert und bewertet. Ich hab abgewogen, was mir wirklich wichtig ist und mir kam diese Frage in den Sinn, die sie mir mal gestellt hat: "Warum erlaubst du dir nicht, glücklich zu sein?" 

Dass sie ein wichtiger Teil meines Glücks sein würde, war mir schnell klar, aber irgendwann flackerte da störend das Wort Bruder vor meinem inneren Auge. Wie eine riesige Neonleuchtreklame. Wie die in den Filmen über Las Vegas, nur nicht direkt so unterhaltsam, wie ein fünfzig Meter großer Cowboy, der die Farbe wechseln kann.

Jetzt sitzen wir hier, nachdem wir uns unter der Woche schon auf neutralem Boden getroffen haben. Es wird sicher noch eine Weile brauchen und vielleicht wird es nie mehr wie vorher, aber tief in mir weiß ich, ich will ihr Bruder sein.

Montag, 8. Januar 2018

Waterkant



ein meer
unendlich weit
mein horizont
ausgefüllt
wellen, wirbel
sonne
taucht ein
taucht auf
aus einem meer
ich rieche
ich schmecke
ich atme
mein meer
es umflutet mich
meine hände
benetzt
ertasten
die flut
der letzten nacht
abgeebbt
mein meer ruht
genieße
die stille
unendliche weite 
des erfüllten horizonts