"Noch'n Kirsch!", dein Schrei versucht die Musik zu übertönen,
aber sie versteht auch so, was du willst. Ihr seid heute Nacht füreinander
bestimmt. Du und die Barfrau? Du und der Kirsch? Ménage à trois. Mal wieder. Du
siehst dich um. Deine Freunde tanzen in den Schwaden der Nebelkanone mit
Frauen, sitzen mit ihnen an Tischen, machen rum. Du beneidest sie fast, doch
wirst dich erst von der Bar weg bewegen, wenn die Zeit gekommen ist. Du blickst
wieder auf die Theke, greifst das Glas und schüttest dir seinen Inhalt in den
Hals, ehe du ihr einen Fünfer unter das leere Glas klemmst. Du taumelst
rückwärts von der Bar. Die Zeit ist gekommen. Er hat seinen Zweck erfüllt. Der
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Du merkst, wie es in dir zu
arbeiten beginnt. Du tastest dich an dem unverputzten Ziegelgewölbe entlang zum
Ausgang. Der Nebel beißt in deinen Augen. Die Lichter stechen auf deiner
Netzhaut. Die Musik dröhnt dumpf in deinen Ohren. Was ist das? Du kennst nur
Chopin, Mahler, Janáček. Sagst du
immer. Was immer das ist, es ist scheiße, es wühlt dich weiter auf. Macht den
Gang noch schwerer. Über der Tür leuchtet das Notausgangsschild. Du nimmst dich
noch einmal zusammen. Sammelst alle verbliebene Kraft. Nur noch ein paar Meter,
ein paar Schritte. Dann Freiheit. Luft. Dunkelheit. Stille. Du stolperst über
den kleinen Platz und fällst auf die Knie. Alles dreht sich. Um dich. Alles
windet sich. In dir. Dann bricht es sich Bahn.
Dein Kopf wird sofort klarer und du siehst ein Paar Füße vor dir. Du
richtest deinen Blick nach oben und erkennst eine Frau. Deine Augen tränen noch
von den Anstrengungen des Erbrechens. Der Schein der Straßenlaterne über ihr
lässt dich nur ihre Silhouette erahnen, doch du erkennst deutlich die auf der
Brust gefalteten Hände. Die Spitzen ihres langen, schwarzen Haares lugen unter
der Kapuze hervor und werden vom Schein der Laterne in einen eigentümlichen
Schimmer versetzt. Der Lichtkegel bildet eine Korona um ihren Kopf. Du senkst
deinen Blick wieder zum Pflaster, ihre Hand streichelt über deine Wange. Ihre
Augen ruhen auf deinem gequälten Gesicht, deinem vom Alkohol angeknockten Körper.
Sie holt ein Seidentaschentuch aus ihrer Jacke und wischt dir das Gesicht ab, ehe
sie ihre Hände hinter deinem Kopf verschränkt und ihn fest an ihren Schoß
drückt. Ihre Finger massieren deinen Hinterkopf. Das Gefühl verloren zu sein
weicht langsam aus dir, dein Atem wird ruhiger, dein Puls flacht ab. Sie presst
dich weiter an ihren Schoß. Du spürst, wie ihre Wärme auf dich übergeht. Deine
Lider werden schwer, du kannst sie kaum noch offen halten und als ihr Griff
sich löst, sinkst du zu Boden. In tiefen Schlaf auf dem aufgeheizten Pflaster.
Du wirst von der Mittagssonne
geweckt. Das Leben der Stadt flutet sofort deine Ohren. Menschen steigen über
dich hinweg, gehen um dich herum. Zwischen all dem Treiben und Pulsieren kannst
du deutlich einen Ruf hören. Spüren. Du siehst dich um. Suchst nach ihr. Sie
sitzt auf einer Bank nicht weit von dir und winkt dir zu. Du drückst dich vom
Boden hoch, wagst vorsichtig, scheu, einem wilden Tier gleich den ersten
Schritt auf sie zu. Du siehst den Kaffeebecher in ihrer Hand, den neben ihr auf
der Bank. Deine Schritte werden sicherer, fester. Du setzt dich neben sie. Sie
legt ihren Arm um dich, drückt dich an sich und streichelt wieder deinen Kopf.
Du siehst, wie einige der Leute gucken, doch es kümmert dich nicht. Du könntest
sofort einschlafen. Die Hektik, die euch umgibt, prallt an dir ab. Vielleicht
findest du endlich Ruhe, in ihren Armen. Du atmest gleichmäßig. Immer wieder
fallen deine Augen zu. Dein Kopf ruht auf ihren Brüsten, hebt und senkt sich
bei jedem ihrer Atemzüge.
Wie lange sitzt ihr schon hier? Hast du geschlafen? Wird es schon Abend?
Ebbt das geschäftige Treiben um euch langsam ab? Sie gibt dir den Impuls aufzustehen,
nimmt dich an der Hand und führt dich vom Platz. Schweigend. Du gehst ohne
Zweifel mit ihr. Durch Seitenstraßen und Passagen, vorbei an einem kleinen Park
bis zu einer Tür. Sie schließt auf, zieht dich sanft hinter sich herein, führt
dich drei Etagen höher in eine Wohnung.
Mit dem Schließen der Tür löst sie den Griff um deine Hand. Sie geht in
die Küche. Du siehst, wie sie dir ein Glas Wasser eingießt, ehe sie an dir
vorbei wieder in den Flur kommt. Du setzt dich an den Küchentisch, siehst dich
um, führst das Glas zum Mund und hörst in die Wohnung. Wasser beginnt zu
plätschern. Eine Wanne? Du stützt den Kopf in deine Hände und lauschst weiter.
Eine Wanne.
Sie kommt wieder zu dir in die Küche. Nur ein lose gebundener Bademantel
bedeckt noch ihren Körper. Du erahnst ihre geschwungenen Hüften, den weichen
Schoß, in dem sie dich in der Nacht aufgefangen hat. Sie gibt dir zu verstehen,
ihr zu folgen.
Im Bad zieht sie dich aus, legt ihren Bademantel ab und deutet auf die
Wanne. Du steigst hinein, sie setzt sich hinter dich auf den Rand, wäscht dir
mit einem Schwamm Brust und Rücken. Dann verschließt sie die Arme fest vor
deiner Brust. Dein Kopf fällt in ihren Schoß. Du könntest schon wieder
schlafen, fühlst dich gleichzeitig zum ersten Mal seit Jahren hellwach. Draußen
wird es langsam dunkel. Sie zündet Teelichter an. Das Wasser läuft weiter heiß
in die Wanne. Du beugst dich vor, wäschst dir das Gesicht. Sie steht auf,
steigt über dich, setzt sich dir gegenüber auf den Wannenrand und sieht dich
an. Ihr Blick durchdringt dich sofort wieder. Du willst endlich etwas sagen,
doch deine Zunge ist wie gelähmt. Kein Ton kommt über deine Lippen, stattdessen
breitet sich wieder diese vollkommene Ruhe in dir aus. So muss sich wohl
innerer Frieden anfühlen. Sie steigt vom Rand, du willst dich aus der Wanne
drücken. Sie winkt ab, hebt deine Sachen vom Boden auf und verlässt dein
Blickfeld. Du bleibst im heißen Nass liegen. Es hat deine Poren geöffnet. Das
Gift verlässt deinen Körper. Du schließt die Augen, hörst ein Klacken wie aus
weiter Ferne, dann wie die Waschmaschine zu laufen beginnt.
Es klopft an der Tür. Wie lang warst du weg? Egal. Du weißt, es ist Zeit,
aus dem Wasser zu steigen. Du trocknest dich rasch ab, schlüpfst in ihren
Bademantel und öffnest die Tür zum Flur. Dich empfängt der Geruch von frischem
Essen. Was für ein Geruch liegt da in der Luft? Du kennst ihn, kannst ihn aber
nicht zuordnen. Er ist Kindheit, Schulspeisung. Du gehst zu ihr in die Küche.
Sie sitzt schon am Tisch, vor ihr ein Teller, ihr gegenüber ein zweiter. Eine
rötliche Pampe, Sauerkraut, Salzkartoffeln. Zwei Gläser Wasser. Du setzt dich
ihr gegenüber. Jetzt, endlich erkennst du es. Tote Oma. Ihr beginnt wortlos zu
essen. Immer wieder treffen sich eure Blicke. Sie lächelt dich jedes Mal an. In
der Wohnung herrscht Stille. Auch in dir. Du siehst dich nicht hektisch um wie
sonst immer. Bist fokussiert auf das Essen und den Blickkontakt mit ihr. Es
schmeckt hervorragend. Die Konsistenz perfekt. Nicht zu flüssig. Sämig. Wie es
sein soll. Genau richtig. Du lächelst. Ihr Blick ruht auf dir, ehe sie aufsteht
und die Küche verlässt. Du trinkst einen Schluck. Schabst die letzten Reste auf
den Löffel und steckst ihn dir genüsslich in den Mund.
Ihre Hand streift deinen Nacken, du drehst den Kopf, siehst sie an. Auf
dem anderen Arm hält sie deine Sachen. Du schiebst den Stuhl zurück, stehst auf
und nimmst sie ihr ab. Ganz gemächlich kleidest du dich wieder an. Du willst
noch nicht gehen, aber du weißt, du musst zurück in die Realität.
Sie bringt dich zur Tür, du trittst ins Treppenhaus. Ihr seht euch an,
umarmt euch. Sekunden? Minuten? Zeit hat keine Bedeutung mehr. Mit einer Hand hält
sie deinen Kopf. Als ihr die Umarmung löst, machst du den ersten Schritt auf
die Treppe, drehst dich noch einmal zu ihr um, siehst sie an. Du willst endlich
etwas sagen. Sie nickt nur und lächelt dich an, während sie langsam die Tür
schließt. Du verlässt das Haus, orientierst dich in der Dunkelheit des vergangenen
Tages. In welcher Richtung liegt deine Wohnung? Du gehst in die andere. Kein
Grund zur Eile. Kein Grund zu schnell in deine Welt zurückzukehren.
Du bist beinahe wieder zu Hause. Deine Ecke. Dein Viertel. Heimat. Du
weißt, kurz vor deiner Wohnung kommst du an einer Kneipe vorbei. Deiner Kneipe.
Du gehst hinein. Siehst die Frau hinter der Bar an, sie ist fast so oft
hier wie du. Du musst die Worte erst suchen: "Ein großes Wasser,
bitte."