Peter K. aus Halle trinkt wie jeden
Morgen um neun Uhr seinen Kaffee. Ein wenig Struktur muss doch sein, sagt er sich
immer. Er erhält seit anderthalb Jahren Rente wegen seiner Erwerbsunfähigkeit. Die
Lehre bei der HAVAG mit eingerechnet hat er anderthalb Jahrzehnte gearbeitet.
Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Bis Ralf Rangnick damals wegen seines
Burnouts sein Traineramt niederlegte. Peter hat geschimpft und gezetert, was
der Kerl sich einbildet. Burnout. Depressionen. Alles Quatsch. Dann hat er sich
mal belesen. Er erkannte Parallelen zu sich selbst. Und weitere fünf Jahre
später wagte er, nach langem Zweifeln, den Schritt, sich endlich in die Hände
und vor allem in die Praxis eines Psychologen zu begeben. Da dieser bestätigte,
eine Erkrankung dieses Ausmaßes könne mitunter schon viele Jahre bestehen, ehe
ihre Folgen sichtbar werden, kam die Rentenversicherung - auch nach
ausführlicher Prüfung - nicht umhin ihm die Auszahlung zu gewähren. Peter würde
es niemals Betrug nennen, eher glückliche Fügung. Glückliche Fügung, dass die
Prüfung seiner Situation so reibungslos abging und dass er das Erbe seiner
Großmutter verheimlichen konnte. Das war alles erst mal eine ganz schöne
Umstellung, aber seither genießt er sein Leben und beschäftigt sich mit all den
Dingen, die ihm wirklich wichtig sind, ihm aber nie ein lebenswertes Einkommen
ermöglicht hätten. Er hat das Kaffeekochen perfektioniert, nach seinen
Standards. Für eine Tasse gibt er genau zweieinhalb Teelöffel Kaffee, den mahlt
er selbst, in die Presskanne, kocht das Wasser komplett auf und lässt es dann
drei Minuten abkühlen, ehe er zweihundertfünfzig Milliliter Wasser in die Kanne
gießt. Er hat sich extra eine Skala an der Außenseite aufgemalt. Das
aufgegossene Gebräu lässt er dann nochmals
vier Minuten ziehen, bevor er den Deckel schließt und vorsichtig und langsam
den Stempel nach unten drückt. Gut Ding
will Weile haben, findet er. Er geht jeden Dienstag in der Volkshochschule
töpfern, das macht er auch wegen der Struktur, oder zu anderen Kursen. Ein
wenig in Spanisch reinschnuppern oder Italienisch. Zehnfingertippen, für die Koordination
und Konzentration, für seinen ganzen Stolz. Seine Modelleisenbahn. Ein Nachbau
des halleschen Nahverkehrsnetzes. Sie ist an Realismus und Detailverliebtheit
kaum zu übertreffen. Der Bergzoo. Der botanische Garten, in dem er als Kind
immer so gern war. Das Neue Theater. Die Oper. Burg Giebichenstein, die Moritzburg.
Ha-Neu in seiner ganzen Pracht. Und erst der Straßenverkehr, die Passanten.
Fast wie im MiWuLa, nur nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Warum er den
immer wiederkehrenden Unfall in seiner Straße eingearbeitet hat, kann Peter bis
heute nicht erklären. Das Auto, der Kerl im Anzug, der Knall. Immer wieder,
alle sechzehn Stunden. So lange er hier wohnt, hat es so etwas noch nie
gegeben. Ist eine ruhige Ecke, wenig Verkehr.
Heute Nachmittag kommt sein Freund Holger vorbei. Das machen sie häufiger
an den Sonntagen. Sonntag? Komisch, wie so ein Tag an Bedeutung verliert, wenn
jeder Tag so ist. Holger hingegen kennt selbst an Sonntagen keinen Sonntag. Er
ist seit einigen Jahren selbstständig. Selbst. Ständig. Alles für die Firma,
alles für den Mammon. Immer rabota, rabota. Wären die beiden nicht zu
Schulzeiten Freunde geworden, es gäbe wohl nichts, das sie verbinden könnte. Ihn
und Holger, gefangen im Rad, wie ein Hamster auf Methamphetaminen.
Holger erzählt wieder mal viel von seiner Firma, seiner Familie. Peter
ist schon ganz durcheinander, wem er denn nun Rechnungen für seine investierte
Zeit stellt. Holger schwafelt minuten- oder vielleicht auch schon stundenlang -
Zeiteinheiten haben gerade keine Bedeutung mehr - über Kredite fürs Eigenheim,
die Betriebsausstattung, Vorteile von Leasing gegenüber Kauf, seine grandiosen
Ideen dem Finanzamt von der Schippe zu springen. Alles böhmische Dörfer für
Peter. Er versucht die guten, alten Zeiten ins Gespräch zu bringen. Wie sie
damals in den Sommerferien mit den Fahrrädern immer ins Freibad gefahren sind. Oder
Dariusz Wosz. Hinrunde 91/92. Aber Holger lässt sich nicht abbringen und redet
weiter von den Früchten seiner Arbeit. Von den schönen Anzügen und vom Benz und
vom Eigenheim in Dölau. Und so weiter und so fort.
"Wie hältst du das eigentlich aus?" Holger sieht aus müden
Augen zu Peter rüber. "Den ganzen Tag nichts machen, mein ich."
"Kaffee?" Peter hält die Kanne schon über Holgers Tasse.
"Ich mach ja nicht nichts. Ich mach sogar sehr selten nichts. Vermutlich
mach ich an vielen Tagen mehr als du."
Holger lächelt verständnislos. "Ja, bitte." Er wischt sich mit
der Hand über den Mund. Macht er oft. "Du und mehr machen als ich. Wer's
glaubt."
"Doch, doch stimmt schon. Ich mach eben nur was anderes, für dich
sieht das dann eben nur aus wie nichts. Hast ja gar keine Zeit
hinzugucken."
Holger trinkt von seinem Kaffee. Peter gießt sich jetzt ebenfalls ein. Nimmt
ganz bedächtig das Milchkännchen, das er irgendwann an einem Dienstagvormittag
getöpfert hat, vom Tisch und füllt unter gleichmäßigem, gemächlichem Rühren das
letzte Drittel seiner Tasse auf. Peter kann im Augenwinkel sehen, wie Holger
ihm gebannt zusieht. Der schüttet für gewöhnlich. Erst den Kaffee in die Tasse,
dann die Milch obendrauf, dass es nur so spritzt, und schließlich das Gemisch
in sich rein. Gebrüht hat er ihn wie immer, aber Peter hat schon bewusst nicht
seinen Lieblingskaffee gemacht. Jemen Mocca Matari aus der Rösterei am Alten
Markt. Perlen vor die Säue, hat er sich gedacht.
Peter sieht Holger an, "siehst du? Endlich nimmst du dir mal Zeit einfach
zu gucken, was und wie andere machen."
Holger wippt unregelmäßig mit den Füßen. "Aber das ist doch nicht
etwas machen, das ist Kaffee."
Peter rollt mit den Augen und schüttelt den Kopf, ehe er seine Tasse
behutsam zum Mund führt. "Holger, du rennst durchs Leben. Scheuklappen
auf. Immer ein Ziel im Blick. Haus, Auto, Familie. Immer rennen. Immer hetzen.
Gehetzt werden, von dir selbst." Peter stellt die Tasse wieder auf den
Couchtisch. "Niemals nach links oder rechts blicken, geschweige denn
abweichen. Immer nur schnurstracks geradeaus."
"Und? Wenigstens hab ich ein Ziel." Holger schüttet den letzten
Schluck Kaffee hinter.
Peter weiß jetzt schon, dass Holger gleich aufspringen wird. "Lass
doch einfach mal was laufen. Es geht darum, wie man etwas macht, und nicht
darum, was dabei rauskommt. Samu."
"Sa-Was?" Holger sieht ihn aus großen Augen an.
"Samu. So nennen die im Zen-Buddhismus ihre meditativen
Arbeiten." Das hat er mal aufgeschnappt, als er spaßeshalber in so einem
Seminar der Japanologie saß.
"Meinetwegen, mach du nur wie und nicht was. Ich muss dann auch echt
wieder los."
"Fast eine Stunde, immerhin", Peter nickt anerkennend.
Holger steht vom Sessel auf, rückt die Hose zurecht und streicht sein
Hemd glatt, ehe er sich wieder über den Mund wischt. "Ich lass mich dann
wieder selbst raus. Bis nächste Woche, wenn nichts dazwischen kommt."
"Du weißt, ich find auch an jedem anderen Tag Zeit. Mach's gut,
Holger."
Holger hat die Wohnung verlassen.
Peter sitzt mit seinem erkalteten Kaffee vor seiner Modelleisenbahn. Erst vor
ein paar Minuten noch hat er Holger vom Fenster aus zum Abschied gewunken. Er
bewundert, wie all seine kleinen Kreationen ineinander greifen. Hinter einem
der winzigen Fenster steht ein Männchen und blickt auf den Unfall auf der kleinen
Straße aus PVC. Runter gehen zu Holger kann er nicht. Nervenflattern.
Schockstarre. Peter betrachtet weiter die kleine Welt vor sich. "Eines
Tages", murmelt er vor sich hin, "wirst du erkennen, dass dein
Gehetze und Gerenne dir gar nichts gebracht haben, lieber Holger. Ich hoffe für
dich, dass es nicht schon zu spät ist." Er legt das Telefon jetzt neben den
Regler für die Bahn. Der Tote auf PVC wird gerade abtransportiert. Draußen
gehen jetzt auch die Sirenen des Krankenwagens. Bevor Peter vom Fenster zurückgetreten
ist, hat Holger ihn noch vom Asphalt aus angestarrt. Der Krankenwagen müsste
jetzt jeden Augenblick da sein.
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