Mittwoch, 18. Oktober 2017

Hummer



"... der Zug endet hier. Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen und freuen uns, Sie bald wieder in den Zügen von DB Regio begrüßen zu dürfen."
Er steht auf und folgt ihr in sicherem Abstand. Aus dem Zug. Über den Bahnsteig. Durch die Unterführung. Über den kleinen Bahnhofsvorplatz. Sein Blick haftet auf ihr. Der Andere sitzt ihm im Nacken. Sie sieht sich um, ihn an. Er vergräbt die Hände tief in den Taschen. Guckt auf den Boden. Es ist schon lange dunkel. Die Bordsteine noch länger hochgeklappt. Sie beschleunigt ihren Schritt. Er zieht nach. Hält weiter Abstand. Holt eine Zigarette aus dem Etui. Verlangsamt seinen Schritt beim Anzünden wieder. Der Rauch des ersten Zugs brennt in seinen Lungen. Er unterdrückt ein Husten. Räuspert sich nur. Sie sieht wieder zu ihm zurück, ehe sie die Straßenseite wechselt. Er inhaliert den Rauch, atmet aus, schielt zu ihr rüber. Unterdrückt den Schrei des Anderen. Er beobachtet sie aus dem Augenwinkel. Behält sie im Blickfeld. Bald kommen sie an einen Park. Ein Teil von ihm hofft, dass sie den umgeht. Und der Andere treibt ihn immer weiter.

Ihre High Heels klackern auf dem Pflaster, seine Turnschuhe geben bei jedem Schritt nur einen dumpfen Ton. Er schnippt die Zigarette in den Rinnstein. Sieht den Stummel in einem Gully verschwinden. Als er seinen Blick wieder hebt, ist sie verschwunden. Es überrascht ihn, ärgert ihn, obwohl er es erwartet hat. Gehofft hat. Er bleibt stehen und sieht sich hastig um. Sein Blut kocht. Und der Andere schreit wieder. Treibt ihn weiter an. Er dreht sich auf der Stelle, bereit über die Straße zu sprinten. Kneift die Augen zusammen, sucht nach Spuren ihres Wegs. Denkt an den Park. Zweihundert Meter. Nur noch zweihundert Meter weiter hätten sie gemusst. Der Andere versucht, die Ratio, die Beherrschung niederzuringen. Er geht ein Stück zurück. Seine Augen scannen eine spärlich beleuchtete Gasse. Seine Ohren lauschen ins Dunkel. Weit und breit kein Klackern mehr. Sie muss die Schuhe ausgezogen, sich versteckt, zu schweben begonnen haben. Er geht auf die andere Straßenseite, die Gasse entlang. Sein Blick tastet die Nacht ab. Sie darf nicht einfach so weg sein. Er schaut nach links und rechts. Vielleicht kauert sie in einem Hauseingang. Eine andere Straße quert die Gasse. Er dreht sich auf der Kreuzung im Kreis, folgt den Anweisungen des Anderen weiter die Gasse entlang. Sondiert weiter die Eingänge, lauscht nach dem Klackern, schwerem aufgeregtem Atem. Nichts. Er fährt sich durchs Haar, reißt sich dabei ein Büschel aus. Knackt mit den Fingerknöcheln. Er weiß, er sollte aufgeben, nach Hause gehen, doch er will sie finden. Sie stellen. Der Andere wird ruhiger. Langsam, ein wenig. Ergibt sich der Tatsache, heute keinen Fang zu machen.

Welche Ziele er sich gesetzt habe, hatte der Therapeut gefragt. Was immer du hören willst. Einen Zug eher fahren, um sie nicht wieder zu sehen. Nicht wieder getriggert zu werden. Sicher, wieso nicht? Seine Hände hatten gezittert. Er hatte die Finger verschränkt und wieder geöffnet, die Handflächen aneinander gerieben.
Endlich hat er etwas zum Spielen. Er wiegt die Pillendose in der Hand. Ob sie ihm helfen? Natürlich. Er sieht die drei vollen Dosen im Müll liegen. Er will die Chemie nicht mehr. Will kein Hummer mehr sein. Unsterblich, bis das Innere so stark gegen den Panzer drückt, dass es ihn selbst zerquetscht. Der Andere bricht ihn auf. Die Dose klirrt im Mülleimer. Noch ein Mal. In der Gasse kurz vorm Park, wo sie letzte Nacht entkommen ist. Noch ein Mal. Der Andere sitzt ihm im Nacken. Applaudiert. Noch ein Mal.