Ein Nachmittag im Frühsommer.
Kurz vor siebzehn Uhr. Er fährt mit der Rolltreppe zum Bahnsteig hinab. Er hat
noch einige Minuten Zeit, bevor der Zug auf der Durchfahrt kurz hält. Er trägt
Kopfhörer über seiner Mütze und hat auch noch die Kapuze des Pullovers darüber
gezogen. Viel zu warm, doch er braucht das Schutzschild, das er nur senken
wird, um das Buch aus seinem Rucksack zu holen und zu lesen. Er wartet...
Der Zug fährt ein und gemeinsam
mit den übrigen Pendlern, die meisten kennt er inzwischen vom Sehen, steigt er
ein und das übliche Spiel beginnt. Die Suche nach dem Platz. Er läuft durch den
halben Zug bis er an einen Viererplatz gelangt, auf dem nur eine Frau mit ihrer
Tasche sitzt. Er sieht sie an, deutet auf einen der freien Sitze ihr gegenüber
und sie gibt ihm mit einer Geste widerwillig zu verstehen, dass der Platz noch frei sei. Er
setzt sich hin, stellt den Rucksack zwischen seinen Füßen ab, nimmt den
MP3-Player aus der Bauchtasche des Pullovers und stellt die Musik ab. Er zieht
die Kopfhörer nach hinten ab, öffnet den Reißverschluss seines Rucksacks und
holt sein Buch heraus.
Er beginnt zu lesen. Eine Seite, zwei Seiten, drei...
dann schleicht sein Blick über den oberen Rand des Buchs zurück in die
Realität. Er hatte sie bereits gesehen, als er auf den Sitzplatz deutete, doch
nun bemerkt er sie auch. Sie ist ein paar, vielleicht zehn, Jahre älter als er.
Ihr langes schwarzes Haar hat sie am Hinterkopf hochgesteckt. Ihre Haut ist so früh im Sommer bereits gut gebräunt, doch durch
die schwere, schwarze Lederjacke wirkt sie deutlich blasser. Ihre
wunderschönen Beine in der blauen Jeanshose hat sie mittlerweile übereinander
geschlagen und ihre Fußspitze deutet auf ihn. Er zwingt seinen Blick zurück ins
Buch, er will die Worte verstehen, doch sie rauschen nur so vorbei und in
seinem Kopf tanzen die Gedanken Polka. Immer wieder sieht er sie an, wie sie da
am Fenster sitzt und nach draußen schaut. Wann immer ihr Blick dann doch droht,
ihn zu ertappen, senkt er den eigenen wieder auf die Worte, die Buchstaben, das
Kauderwelsch. Er glaubt zu wissen, dass beide am selben Bahnhof aussteigen
müssen. Er glaubt, je länger er darüber nachdenkt, je länger er sie betrachtet,
sie bereits einmal morgens am Bahnsteig gesehen zu haben. Er hat ein wenig
Angst davor, sie könnten zusammenstoßen, wenn sie beide zeitgleich aus dem Zug
wollen.
Der Zug fährt ein. "Bleib
ruhig", denkt er sich, "lass ruhig erst die anderen losrammeln und
gib ihr die Chance einfach so an dir vorüber zu huschen." Und er steckt in
aller Ruhe sein Buch zurück in den Rucksack. Was ihm jedoch Unbehagen bereitet,
auch sie verharrt noch auf ihrem Sitz. Soll er sich getäuscht haben? Wohnen sie
gar nicht in derselben Stadt? Das einsetzende Quietschen der Bremsen
unterbricht seinen Gedankenfluss und gibt ihm sogleich das Signal, sich zu
erheben. Auch sie steht in diesem Moment auf. Beinahe treten sich die beiden
auf die Füße. In einer Mischung aus tobender innerer Unruhe und Fluchtgedanken behält die gute Erziehung die Oberhand und er
gewährt der Frau den Vortritt, sie schiebt sich an ihm vorbei, blickt kurz in
sein Gesicht, lächelt ihn an und flüstert ihm, als wäre es wirklich nur für ihn
ganz allein bestimmt, ein Danke zu.
Als er den Zug verlassen hat,
blickt er ihr noch einen Augenblick lang nach und tritt so unbeschwert, wie
seit Langem nicht, den Heimweg an.