Sonntag, 28. Mai 2017

Heimweg



Ein Nachmittag im Frühsommer. Kurz vor siebzehn Uhr. Er fährt mit der Rolltreppe zum Bahnsteig hinab. Er hat noch einige Minuten Zeit, bevor der Zug auf der Durchfahrt kurz hält. Er trägt Kopfhörer über seiner Mütze und hat auch noch die Kapuze des Pullovers darüber gezogen. Viel zu warm, doch er braucht das Schutzschild, das er nur senken wird, um das Buch aus seinem Rucksack zu holen und zu lesen. Er wartet...

Der Zug fährt ein und gemeinsam mit den übrigen Pendlern, die meisten kennt er inzwischen vom Sehen, steigt er ein und das übliche Spiel beginnt. Die Suche nach dem Platz. Er läuft durch den halben Zug bis er an einen Viererplatz gelangt, auf dem nur eine Frau mit ihrer Tasche sitzt. Er sieht sie an, deutet auf einen der freien Sitze ihr gegenüber und sie gibt ihm mit einer Geste widerwillig zu verstehen, dass der Platz noch frei sei. Er setzt sich hin, stellt den Rucksack zwischen seinen Füßen ab, nimmt den MP3-Player aus der Bauchtasche des Pullovers und stellt die Musik ab. Er zieht die Kopfhörer nach hinten ab, öffnet den Reißverschluss seines Rucksacks und holt sein Buch heraus. 

Er beginnt zu lesen. Eine Seite, zwei Seiten, drei... dann schleicht sein Blick über den oberen Rand des Buchs zurück in die Realität. Er hatte sie bereits gesehen, als er auf den Sitzplatz deutete, doch nun bemerkt er sie auch. Sie ist ein paar, vielleicht zehn, Jahre älter als er. Ihr langes schwarzes Haar hat sie am Hinterkopf hochgesteckt. Ihre Haut ist so früh im Sommer bereits gut gebräunt, doch durch die schwere, schwarze Lederjacke wirkt sie deutlich blasser. Ihre wunderschönen Beine in der blauen Jeanshose hat sie mittlerweile übereinander geschlagen und ihre Fußspitze deutet auf ihn. Er zwingt seinen Blick zurück ins Buch, er will die Worte verstehen, doch sie rauschen nur so vorbei und in seinem Kopf tanzen die Gedanken Polka. Immer wieder sieht er sie an, wie sie da am Fenster sitzt und nach draußen schaut. Wann immer ihr Blick dann doch droht, ihn zu ertappen, senkt er den eigenen wieder auf die Worte, die Buchstaben, das Kauderwelsch. Er glaubt zu wissen, dass beide am selben Bahnhof aussteigen müssen. Er glaubt, je länger er darüber nachdenkt, je länger er sie betrachtet, sie bereits einmal morgens am Bahnsteig gesehen zu haben. Er hat ein wenig Angst davor, sie könnten zusammenstoßen, wenn sie beide zeitgleich aus dem Zug wollen.

Der Zug fährt ein. "Bleib ruhig", denkt er sich, "lass ruhig erst die anderen losrammeln und gib ihr die Chance einfach so an dir vorüber zu huschen." Und er steckt in aller Ruhe sein Buch zurück in den Rucksack. Was ihm jedoch Unbehagen bereitet, auch sie verharrt noch auf ihrem Sitz. Soll er sich getäuscht haben? Wohnen sie gar nicht in derselben Stadt? Das einsetzende Quietschen der Bremsen unterbricht seinen Gedankenfluss und gibt ihm sogleich das Signal, sich zu erheben. Auch sie steht in diesem Moment auf. Beinahe treten sich die beiden auf die Füße. In einer Mischung aus tobender innerer Unruhe und Fluchtgedanken behält die gute Erziehung die Oberhand und er gewährt der Frau den Vortritt, sie schiebt sich an ihm vorbei, blickt kurz in sein Gesicht, lächelt ihn an und flüstert ihm, als wäre es wirklich nur für ihn ganz allein bestimmt, ein Danke zu. 

Als er den Zug verlassen hat, blickt er ihr noch einen Augenblick lang nach und tritt so unbeschwert, wie seit Langem nicht, den Heimweg an.

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