Er liest die Menschen wie damals
seine Gegner im Ring. Körperlicher Zustand, Muskeltonus, die Bewegungsabläufe,
aber das ist nicht das Wichtigste. Er achtet auf ihre Blicke, kleine Gesten,
ihr Lachen, den Klang ihrer Stimme und ihre Wortwahl, wenn er ihnen gegenübersteht.
Es sind all diese Feinheiten, die sie verraten. Die ihn wissen lassen, wie er
sie anzupacken hat. Eine wertvolle Fähigkeit in seinem Beruf. Auch, dass er ihn
zwar im Laufe der Jahre oft hinhalten musste, aber nicht auf den Kopf gefallen
ist. Er hat einfach ein Gespür für Menschen und weiß, wie er sie anzupacken hat.
Sicher schadet es da nicht, nicht wie der klassische Schläger zu wirken. Er ist
klein für einen Mann und drahtig. Er hat oft darüber nachgedacht, sich aber nie
tätowieren lassen. Seine Nase ist ihm, wie er immer wieder verwundert
feststellt, nie gebrochen. Seine Augen wecken Vertrauen in den Menschen und
seine Stimme beherrscht das gesamte Repertoire von aggressiv bedrohlich bis hin
zu sirenengleicher Betörung. Manchmal glaubt er, für seinen Beruf geboren zu
sein. Beruf und Berufung. Und, wie erwartet, jammert der Kerl vor ihm in der
Ecke rum. Kerl? Naja, Junge trifft es eher. Die Sorte Mensch, bei der die
Daumenschrauben am ehesten ziehen. Der Kleine ist nach ein, zwei Schlägen auch
schnell eingeknickt. Sie stehen sich in der Ecke gegenüber. Es fühlt sich fast
an wie mit zwanzig, einundzwanzig im Ring. Zwanzig? Einundzwanzig? Wie alt ist
das Jüngelchen vor ihm? Sicher keinen Tag älter als fünfundzwanzig.
Er bemerkt gerade noch rechtzeitig,
wie der Kleine versucht sich an ihm vorbeizuschieben, drückt ihn zurück in die
Ecke und schlägt ihm einen linken Haken auf die Leber. Wie kann man in dem
Alter nur schon so fertig sein, dass jemand wie ich in der Wohnung steht? denkt
er, als seine rechte Führhand den Solarplexus des Jungen trifft. Er hält dem Jüngelchen
einen Vortrag darüber, was es noch alles bedeuten kann, sich von den falschen
Leuten Geld zu leihen. Dass, wenn nicht in den nächsten drei Tagen die Schulden
beglichen, bald jemand ganz anderes zu Besuch kommen wird. Niemand, der rote
Aufkleber verteilt, eher jemand, der die Wanne rot färbt. Der Junge nässt sich
ein und heult ihm etwas von den Scheißdrogen und einer sicheren Nummer vor. Wie
das Ding dann doch schiefgegangen ist. Er schlägt dem Jüngelchen von oben aufs Jochbein
und spürt es brechen.
Er sitzt zu Hause und versorgt
seine Hände, sein Kapital. Er kann sich nicht leisten, wegen ihnen krank zu
machen. Der Whisky vor ihm auf dem Tisch schimmert gülden im Glas. Nur ein
Gläschen. 2 cl. Zum Runterkommen, zum Genießen, die Früchte der harten Arbeit
auskosten. Früher, als er angefangen hat, hat er noch mehr getrunken. Heute
nicht mehr. Vernebelt den Kopf. Macht den Körper weich. Lähmt die Reflexe. Nur
heute mal wieder ein Gläschen, wegen dem Jüngelchen, fast wie damals. Er war
noch ziemlich frisch im Geschäft, einer der ersten Aufträge. Auch ein junger
Kerl, Anfang zwanzig. Das Gesicht zu Brei geschlagen von der schnellen
Eingreiftruppe, wie er sie immer nennt. Die Russen und Kasachen. Spätaussiedler
mit Totschlägern und Schlagringen. Immer auf Abruf. Wird den Kleinen von heute
wohl auch erwarten. Die kleinen Fische trifft's eben immer am härtesten im
großen Teich. Die haben einfach keine Verhandlungsbasis. Warum war er damals
überhaupt dabei? Muss die Anlernphase gewesen sein. Jetzt sind die Bilder
wieder da, werden schon vorüberziehen wie immer, versichert er sich selbst. Müssen sie auch. Er muss voll
bei der Sache sein, wenn er morgen wieder losgeht und unbedingt
dran denken aufs Sparbuch für seinen Neffen einzuzahlen. Wer weiß, wie lang das
alles noch gut geht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen