Samstag, 8. Juli 2017

Ringecke



Er liest die Menschen wie damals seine Gegner im Ring. Körperlicher Zustand, Muskeltonus, die Bewegungsabläufe, aber das ist nicht das Wichtigste. Er achtet auf ihre Blicke, kleine Gesten, ihr Lachen, den Klang ihrer Stimme und ihre Wortwahl, wenn er ihnen gegenübersteht. Es sind all diese Feinheiten, die sie verraten. Die ihn wissen lassen, wie er sie anzupacken hat. Eine wertvolle Fähigkeit in seinem Beruf. Auch, dass er ihn zwar im Laufe der Jahre oft hinhalten musste, aber nicht auf den Kopf gefallen ist. Er hat einfach ein Gespür für Menschen und weiß, wie er sie anzupacken hat. Sicher schadet es da nicht, nicht wie der klassische Schläger zu wirken. Er ist klein für einen Mann und drahtig. Er hat oft darüber nachgedacht, sich aber nie tätowieren lassen. Seine Nase ist ihm, wie er immer wieder verwundert feststellt, nie gebrochen. Seine Augen wecken Vertrauen in den Menschen und seine Stimme beherrscht das gesamte Repertoire von aggressiv bedrohlich bis hin zu sirenengleicher Betörung. Manchmal glaubt er, für seinen Beruf geboren zu sein. Beruf und Berufung. Und, wie erwartet, jammert der Kerl vor ihm in der Ecke rum. Kerl? Naja, Junge trifft es eher. Die Sorte Mensch, bei der die Daumenschrauben am ehesten ziehen. Der Kleine ist nach ein, zwei Schlägen auch schnell eingeknickt. Sie stehen sich in der Ecke gegenüber. Es fühlt sich fast an wie mit zwanzig, einundzwanzig im Ring. Zwanzig? Einundzwanzig? Wie alt ist das Jüngelchen vor ihm? Sicher keinen Tag älter als fünfundzwanzig.



Er bemerkt gerade noch rechtzeitig, wie der Kleine versucht sich an ihm vorbeizuschieben, drückt ihn zurück in die Ecke und schlägt ihm einen linken Haken auf die Leber. Wie kann man in dem Alter nur schon so fertig sein, dass jemand wie ich in der Wohnung steht? denkt er, als seine rechte Führhand den Solarplexus des Jungen trifft. Er hält dem Jüngelchen einen Vortrag darüber, was es noch alles bedeuten kann, sich von den falschen Leuten Geld zu leihen. Dass, wenn nicht in den nächsten drei Tagen die Schulden beglichen, bald jemand ganz anderes zu Besuch kommen wird. Niemand, der rote Aufkleber verteilt, eher jemand, der die Wanne rot färbt. Der Junge nässt sich ein und heult ihm etwas von den Scheißdrogen und einer sicheren Nummer vor. Wie das Ding dann doch schiefgegangen ist. Er schlägt dem Jüngelchen von oben aufs Jochbein und spürt es brechen.



Er sitzt zu Hause und versorgt seine Hände, sein Kapital. Er kann sich nicht leisten, wegen ihnen krank zu machen. Der Whisky vor ihm auf dem Tisch schimmert gülden im Glas. Nur ein Gläschen. 2 cl. Zum Runterkommen, zum Genießen, die Früchte der harten Arbeit auskosten. Früher, als er angefangen hat, hat er noch mehr getrunken. Heute nicht mehr. Vernebelt den Kopf. Macht den Körper weich. Lähmt die Reflexe. Nur heute mal wieder ein Gläschen, wegen dem Jüngelchen, fast wie damals. Er war noch ziemlich frisch im Geschäft, einer der ersten Aufträge. Auch ein junger Kerl, Anfang zwanzig. Das Gesicht zu Brei geschlagen von der schnellen Eingreiftruppe, wie er sie immer nennt. Die Russen und Kasachen. Spätaussiedler mit Totschlägern und Schlagringen. Immer auf Abruf. Wird den Kleinen von heute wohl auch erwarten. Die kleinen Fische trifft's eben immer am härtesten im großen Teich. Die haben einfach keine Verhandlungsbasis. Warum war er damals überhaupt dabei? Muss die Anlernphase gewesen sein. Jetzt sind die Bilder wieder da, werden schon vorüberziehen wie immer, versichert er sich selbst. Müssen sie auch. Er muss voll bei der Sache sein, wenn er morgen wieder losgeht und unbedingt dran denken aufs Sparbuch für seinen Neffen einzuzahlen. Wer weiß, wie lang das alles noch gut geht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen