Heiligabend gegen zweiundzwanzig Uhr, er steht mit einer
Zigarette und einem Bier am geöffneten Küchenfenster, still ruht die Straße
unter seinem starren Blick. Hinter mehreren Fenstern auf der gegenüberliegenden
Seite blinken Weihnachtsbäume und Schwibbögen strahlen vor sich hin in die
Dunkelheit. Doch sein Blick ruht auf drei nebeneinander liegenden, zum Lüften geöffneten
Fenstern im ersten Obergeschoss. Die Vorhänge sind aufgezogen. Eine junge Frau
mit langen braunen Haaren läuft in Dessous von einem in das andere Zimmer,
während eine zweite eine Gesichtsmaske aufgetragen und nur mit einem Slip
bekleidet Zähne putzt und eine dritte gerade in ihren pink-weißen Jogginganzug
schlüpft. Da taucht an einem der Fenster eine Frau von etwa Mitte Vierzig auf,
lehnt sich heraus und zündet sich eine Zigarette an. Ihr Blick trifft seinen
und er prostet ihr zu. Sie winkt desinteressiert zurück. In den folgenden
Minuten dreht sie ihren Kopf in unregelmäßigen Abständen nach links und rechts
und hält Ausschau nach den letzten, potentiellen Kunden im Weihnachtsgeschäft,
denn in der Wohnung im ersten Obergeschoss werden Wünsche, Vorstellungen und
manchmal gar Träume verkauft. Die jungen Freelancerinnen haben inzwischen alle
in ihre Feierabendgarderobe gewechselt. Er nippt an seinem Bier und wägt ab, ob
er sich schon ein neues aus dem Kühlschrank holen sollte, nimmt einen letzten
Zug von der Zigarette, bevor er sie in die Dunkelheit schnipst und sofort
Tabak, Papers und Filter aus der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers zieht.
Sein Blick ist währenddessen weiter auf die Wohnung fixiert, er weiß nicht, ob
oder was er sich davon verspricht, doch er kann seinen Blick nicht abwenden, er
verspürt keine Erregung, keine Abscheu oder Bewunderung für die Arbeit der
Frauen. Im Grunde spürt er nichts außer dem sinkenden Füllstand in der Flasche,
der Angst vor dem Wissen nur noch zwei weitere im Kühlschrank zu finden und
schlechten Wortspielen, die durch seinen Kopf schießen.
Den Baum aufstellen.
Die Gans stopfen.
Die Wiener in den Kartoffelsalat stippen.
Schöner die Glocken nie klingen.
Das Geschenk auswickeln.
An der Zuckerstange lecken.
Er ext das letzte Drittel Bier, stellt die leere Flasche
aufs Fensterbrett und dreht sich eine Zigarette. Er hat längst aufgehört zu
zählen, doch der blaue Dunst wabert durch die Küche, als seien es zu viele
gewesen. Er sieht wie die drei jungen Frauen mit Essen vom Lieferdienst auf dem
Bett Platz nehmen, die ältere am Fenster blickt ihn starr an und gibt ihm – als
hätten das Nikotin, die Kälte und seine bedauernswerte Gestalt sie milde
gestimmt - durch einen Wink mit der Hand und einem mitleidigen Gesichtsausdruck
zu verstehen, er solle zu ihnen rüberkommen. Er starrt aus leeren Augen auf sie
und das Fenster, dann dreht er seinen Kopf zurück und sieht sich in seiner
Küche um. Der Tisch liegt voller Papiere, Kronkorken, Tabakreste und Staub. Auf
dem Herd steht ein Topf mit kalten, angetrockneten Nudeln, hinter der Küchentür
stapeln sich die Plastetüten vom Dönermann. Dann fällt sein Blick auf den
Kühlschrank. 'Zwei Bier' hallt es durch seinen Kopf. Er macht einen Schritt
zurück, schließt das Fenster und die Vorhänge, dreht sich um und geht zum
Kühlschrank. Er öffnet ihn, greift sich das vorletzte Bier und lässt die Tür
wieder zu schwingen, die halb aufgerauchte Zigarette klemmt zwischen seinen
Lippen und er fummelt das Feuerzeug aus der linken Tasche seiner Jogginghose,
um damit die Flasche zu öffnen. '24.12., vierundzwanzig Flaschen in zwölf
Stunden. Job well done. Und sogar noch eine zum Frühstück in Reserve. Sich zu
verzählen hat doch sein gutes' denkt er sich und verlässt mit dem Bier in der
Hand und der Kippe im Mund die Küche, macht noch einen Abstecher ins Bad,
stellt sich vors Klobecken und lässt es laufen. Nach einem letzten, tiefen Zug
lässt er die Kippe in die Schüssel fallen und drückt die
Spülung, während er gleichzeitig einen großen Schluck aus der Flasche nimmt. Er
verlässt das Bad und geht ins Schlafzimmer, wo er sich rücklings aufs Bett
fallen lässt. Ein Schwapp flüssigen Goldes trifft die Laken und er starrt zur
Decke.
Eine sehr zur Besinnung beitragende Geschichte in diesen besinnlichen Zeiten.
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