Samstag, 8. April 2017

Bekanntschaften



Ich sitz an der Ostseite mit Blick auf den Busbahnhof, das heißt ich würde auf den Busbahnhof blicken, wenn ich nicht, die Kapuze über die Kopfhörer tief ins Gesicht gezogen, an meinem Kaffeebecher vorbei auf den Boden gucken würde.

Dann bleibt plötzlich ein paar beschuhte Füße vor mir stehen und verweilt in meinem Blickfeld. Zwischen den Takten auf den Kopfhörern und den dumpfen, ausgegrauten Umgebungsgeräuschen höre ich, dass mich jemand anspricht, glaube ich zumindest, vermute es und hebe unweigerlich meinen Blick, während ich die eine Ohrmuschel hinter mein rechtes Ohr schiebe und sehe in ein altersloses Gesicht, gegerbt von zu viel Zeit an der frischen Luft, die Handrücken sind mit Tätowierungen geziert aus einer Zeit, als das noch gesellschaftlicher Selbstmord war.

"Kann ich dir irgendwie helfen?", spreche ich ihn schließlich an und schnipse meinen Zigarettenstummel links an ihm vorbei.

"Du siehst aus", entgegnet er, "als könnte man dich was fragen."

"Sicher", ich nicke, "so lang du keine Niere von mir willst", ich steck mir eine frische Zigarette in den Mund, zünde sie an und halte ihm die Schachtel hin. Er greift sofort zu.

"Du bist okay. Darf ich?", deutet er auf den Platz neben mir. Ich nicke, er setzt sich neben mich und sofort steigt mir der Geruch von Suff in die Nase. "Und darf man fragen, was du so machst?"

"Gar nix!", ich grinse, "ich studiere."

"Cool. Cool", er zieht an der Zigarette, "also feierst du viel, oder?"

Ich schüttel energisch mit dem Kopf. "Nee, nee. Damit bin ich durch, ich studier' wirklich, also das heißt", ich lache kurz auf, "ich geh nur einfach so nicht hin."

"Okay. Okay. Und was würdest du studieren, wenn du hingehen würdest?"

Ich blicke wieder zu Boden und zieh an meiner Zigarette. "Englisch Lehramt", ich elender Lügner.

"Und wenn du fertig bist, willste dann richtig an 'ner Schule unterrichten, oder wie?"

Ich fahre mir unweigerlich mit meiner rechten Hand durchs Haar und atme deutlich hörbar aus. "Keine Ahnung, ma' gucken", ich ziehe wieder.

"Ja, klar", winkt er beiläufig ab, "ich mein, du bist auch noch jung. In deinem Alter hatt' ich auch keinen Schimmer, was ich machen will."

"In meinem Alter?", ich sehe ihn zweifelnd an, "so viel älter siehst du gar nicht aus."

"Danke", er lacht, "aber ich bin 53."

Ich schüttel den Kopf und ziehe eine Augenbraue hoch. "Ernsthaft?"

"Ja, glaub mir", er zeigt ein lückenhaftes Grinsen, "Dreiundfünfzig!"

"Digger, du siehst nicht älter aus als mein Bruder und der ist erst Mitte Dreißig."

"Ist ja gut. Glaub's mir halt einfach. Isso!", er zieht an der inzwischen zu einem Drittel runter gebrannten Zigarette, "Übrigens, weil du ja so ein Sprachtalent bist, ich kann zwölf Sprachen, aber kein Englisch."

Ich habe den Verdacht, er versucht bewusst das Thema zu wechseln. "Du? Kannst zwölf Sprachen?"

"Ja man. Nur halt kein Englisch", er sieht mich herausfordernd an, als solle ich ihn bitten etwas in einer anderen Sprache zu sagen, doch mein ausdauerndes Schweigen lässt ihn fortfahren, "hab ich alle im Knast gelernt", erst jetzt atmet er den Rauch wieder aus, keine Ahnung, wie er das geschafft hat, "also nicht alle auf einmal, sondern schön so nach und nach über die Jahre."

"Okay", ich nicke aus einer diffusen Anerkennung heraus, "und wie lang warst du drin?"

"Insgesamt", er macht eine kurze Pause, "oder jeweils?"

Ich reagiere nicht.

"Also erst hier in Deutschland", fährt er fort, "das war bisschen wie Urlaub. Und dann mal in Thailand und so weiter", er breitet die Arme aus, "ich hab so 'ne Art Weltreise gemacht und auf der musst' ich mich ja dann auch irgendwie verständigen. Weißte wie ich mein?"

"Jaja schon klar", ich bin mir nicht sicher, ob er mich verarschen will, denn er wirkt irgendwie glaubwürdig, "und was hast du immer mal wieder so angestellt?"

"So verschiedenes eben", er wischt sich mit dem Handrücken über den Mund, "also das erste Mal war ich zehn Jahre wegen Totschlag in Moabit. Da wollt' einer meine Tochter anpacken", er holt instinktiv mit der Hand aus, "und dann hab ich halt zugelangt."

"Okay", ich muss kurz schlucken, "kann ich irgendwie verstehen", wenn es denn wahr ist, füge ich im Geist an, "Und was jetzt so?"

"Ich wohn' da ein Stück die Straße runter, in so 'nem Abbruchhaus und versuch irgendwie über die Runden zu kommen."

"Krass."

"Ach", er winkt wieder ab, "passt schon. Ich komm klar, so lang ich jeden Tag meine fünf, sechs Bierchen krieg'. So Kaffee, wie du hier, geht gar nicht, kommt mir immer direkt wieder raus."

"Shit, damit könnt' ich nicht leben, glaub' ich."

"Halb so wild, halb so schlimm, aber, was ich immer mal ganz gern trinke", er fuchtelt mit dem linken Zeigefinger in der Luft rum, "also wenn ich genug geschnorrt hab, weißte, is' Kakao. Das geht immer."

"Versteh das jetzt nicht falsch", ich lehn' mich auf der lehnenlosen Sitzbank zurück, "aber mit dir möcht' ich nicht tauschen."

"Kann ich gut verstehen", er klopft mir auf die Schulter, "würd' ich auch nicht wollen."

"Ja, gut", ich steh auf, steck mir noch eine neue Zigarette in den Mund und halte ihm wieder die Schachtel hin, er nimmt zwei, "ich muss dann jetzt auch los."

"Willst doch lieber wieder richtig studieren, was?", er grinst, "war nett dich kennenzulernen."

"Gleichfalls", ich deute mit der linken Hand ein Winken zum Abschied an, "Und mach dir noch 'nen schönen Tag."

"Danke, danke! Wünsch ich dir auch."

Ich dreh mich um und mache mich daran den Platz zu verlassen, als ich mich nochmal umsehe, sitzt er noch immer auf der Bank und raucht seinemeine Zigarette...

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