Ich war nie ein
besonders engagierter Mensch. Ich machte zu wenig Sport, rauchte
unentwegt, kaufte Billigfleisch in Plasteverpackungen. Mein Abwasch
türmte sich oft wochenlang, bis das Konstrukt zu fallen drohte, ehe
ich endlich aufwusch. Mit Mühe und Not schaffte ich es, jeden Tag
arbeiten zu gehen. Kurzum ich war ein Musterbürger. Von der
Lohnarbeit zu entkräftet.
Und nicht nur
fehlte mir oft genug die Kraft, auch Mut war nie mein Steckenpferd.
Statt mich zu offenbaren, mich zu erkennen zu geben, lauschte ich
lieber den Tiraden der selbsternannten Bürgerlichkeit, wenn sie sich
de facto als Faschisten outeten. Schließlich kam es, wie es kommen
musste, dass ich, als die Masse jubelnd zustimmte, meine Ablehnung
nicht mal mehr flüstern konnte. Ich hatte meine Stimme verloren, den
Moment verpasst, da reden noch etwas gebracht hätte.
So ergab es sich
auch, dass ich eines Tages wieder durch meine Küche schlich, während
Liebknecht mit Luxemburg und Brecht in meinem Schlafzimmer am dort
von mir aufgestellten Küchentisch saß. Fenster und Türen hielten
sie geschlossen ebenso die Vorhänge. Das Licht hatten sie gedimmt.
Bis auf vereinzelte Ausrufe war selten mehr als ein Flüstern von
ihnen zu vernehmen. Wie sie wirklich hießen, fragte ich nicht. Was
sie im Detail besprachen, wusste ich nicht. Was mir drohte, wenn sie
aufflogen, verdrängte ich. Ich hoffte schlicht, sie würden den
Karren aus dem Dreck ziehen, in den ich ihn mit meiner anhaltenden
Passivität mit herein gesteuert hatte.
Immer zeitiger
wurde es jetzt dunkel an den voranschreitenden Herbsttagen, immer
größer auch die Gefahr, ertappt zu werden in dem Zimmer mit Blick
aufs Hinterhaus. Ob es nicht besser sei, den Fernseher ausgeschaltet,
das Licht gelöscht zu lassen in meiner Wohnküche, hatte ich sie mal
gefragt. Es sei sicherer den Streifen auf der Straße dasselbe Bild
wie in den anderen Wohnungen zu bieten, bekam ich zur Antwort.
Es wurde wieder
ein später Abend, ehe der erste von ihnen das Zimmer verließ, auf
Socken durch den dunklen Flur zum Türspion schlich und ins
Treppenhaus spähte. Wenn er zu den anderen zurückkehrte, ihnen sein
Okay gab, hörte ich auf ihre Schritte, hörte auf die Tür, wie sie
sich öffnete, wieder schloss. Wie immer verharrte ich noch ein paar
Minuten vor dem Fernseher, bevor ich ins andere Zimmer ging, den
Umschlag vom Tisch nahm und in meine Arbeitstasche steckte. Wie immer
würde ich den Tisch erst am nächsten Morgen zurückstellen, wenn
das morgendliche Getümmel des Arbeiterhauses alle Geräusche
übertünchte. Und wie immer würde ich dann, auf dem Weg nach
draußen, die Adresse aus meinem Briefkasten greifen, mir einprägen
und mit der ersten Zigarette verbrennen.
Hätte ich nur
ein wenig eher den Arsch hochgekriegt und Mut gezeigt, hätte ich es
an diesem Tag nicht schon wieder tun müssen. Das Leben im
Konjunktiv, es könnte so schön sein, doch das war es nicht. Denn
als sie kamen, inszenierten sie sich als Volksvertreter,
Volksversteher und der um sich greifende Wahn bestätigte sie. Die
geschürten Ängste und die Wut bildeten die Bugwelle für sie. Das
Boot sei voll und in seinem Fahrwasser wurden sie nach und nach in
die Parlamente gespült. Als dann noch ihr charismatisch-eloquenter
Heilsbringer kam, konnten sie frei schalten und walten. Kulturfonds
wurden eingestampft, Vereinen die Finanzierung entzogen,
Intendantenposten nach Belieben neu besetzt.
Das Volk, dem sie Geld
und Liebe versprachen? Es spielte ihnen weiter fleißig in die
Karten. Verflogen war die Angst, man könne Dieselmotoren und
Flugreisen verbieten. Für den deutschen Michel änderte sich
tatsächlich nichts, sofern er denn berufstätig war. Erbschaften
blieben bis zu horrenden Summen steuerfrei, Männer konnten weiter
bedenkenlos ihre Frauen prügeln, Hausfrauen und Mütter mussten sich
nie wieder rechtfertigen und endlich gab es Mutterkreuze in Gold und
Platin.
Wer Hartzer war
oder in einem Orchideenfach studierte, wurde dazu verordnet in seines
oder ihres Schweißes Angesicht zu glänzen.
Mit dem Umbruch
ausgelernt und stets unter dem Radar geflogen, konnte ich mich noch
relativ sicher bewegen und handeln, die Botschaften derer, die mehr
zu sagen, zu leisten wussten weitertragen.
So bog ich an diesem
Morgen auf meinem Weg zur Haltestelle in eine Seitenstraße, um den Umschlag einzuwerfen. Ich hatte bereits zwei Gestalten hinter mir bemerkt und als ich mich hinkniete, um meine Schuhe zu binden, wurde es schwarz vor meinen Augen...
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