Freitag, 27. Januar 2017

Beim ersten Schnee

Er tritt im Schutz der Dunkelheit des Fünf-Uhr-Morgens auf den unter seinen Füßen knarzenden, frisch gefallenen Schnee und zündet sich eine Zigarette an. Der schneewettervergilbte Himmel und der reflektierende Schnee rauben der Dunkelheit einen Teil ihres Schutzes und lösen Unbehagen in ihm aus.
Zunächst beobachtet er noch gedankenlos, wie sich die ersten Aschekrumen auf dem Weiß abzeichnen und sein vom blauen Dunst geschwängerter Atem noch meterweit in der Winterluft zu sehen ist. Während seine Füße sich vorsichtig, beinahe wie von selbst über Schnee und Eis immer weiter der Haltestelle entgegen tasten, überkommen ihn die immerselben, wiederkehrenden Fragen.

Ist es nicht pervers, dass andere über meinen Tagesrhythmus richten und ich dabei nicht einmal das meiste Geld verdiene?

Was machen Ladyboys eigentlich beruflich, nachdem sie dem Knabenalter entwachsen sind? Finden sie direkt eine Anschlussbeschäftigung als Vollzeit-Shemale oder ist das am Ende das gleiche?
Und wie viel mehr als ich verdienen eigentlich die Nutten von gegenüber, die sich stunden- und tageweise dort einmieten?

Glaubt die Cracksüchtige mit den eingefallenen Gesichtszügen wirklich, sie würde nicht auffallen, wenn sie um den Fahrradständer schleicht als würde sie eine Kontaktlinse suchen?

Parken die Kauflandmitarbeiter von nebenan eigentlich beim Penny nebendran den Parkplatz zu, um denen das Geschäft zu versauen? Und revanchieren sich die Pennymitarbeiter, indem sie das Kauflandparkhaus mit ihren Autos blockieren?

Kann ich Existenzgründerförderung beantragen, um selbstständiger Frührentner zu werden?

Als die Glut beginnt seine angefrorenen Fingerkuppen zu verbrennen, schnippt er die Zigarette in den Schneehaufen vor ihm. Mit dem kurzen Schmerz sind auch die Gedanken verbrannt und er ist bereit, sich gedankenlos der Arbeitswelt zu stellen.

Mittwoch, 18. Januar 2017

Liebesgedicht

du bist der wind unter meinen flügeln, das schmiermittel für mein schaltgetriebe
deine augen funkeln wie sterne, du bist meine einzige liebe
warum hab ich jetzt so 'nen scheiß geschrieben?
ich versteh' die worte, doch verbind mit ihnen keine gefühle
abgedroschene liebesmetaphorik
ist schlimmer als das, was in manchen kriegen vorgeht

Doppelleben

ich muss von sieben bis vier zuverlässig sein
und halt danach irgendwann mein' bullshit schreiben
ich brauch die arbeit für's dach überm kopf und gelegentlich was zu essen
doch leb immer in der sorge, der chef erfährt von den texten
denn es geht um suff, sex und den gelegentlichen drogenrausch
leute für zehn minuten in geiselhaft nehmen und manchmal tost applaus
dann mitten in der nacht durch die halbe stadt latschen
oder stundenlang in der kälte auf die bekackte bahn warten
nur um gefühlte minuten später wieder den wecker zu verfluchen
kaffee und aspirin sind mein frühstück wie für andere vom bäcker 'n stück kuchen
und selbst wenn ich mal wieder nur nächtelang an texten schreib
manifestiert der schlafentzug in mir den menschenfeind
und so mim' ich den restlos, rastlos abgefuckten
dem zu jeder zeit alle anderen grad egal sind
inszenier mich als zyniker und einsiedler
doch wird's dann samstag auf meinem sessel, bin ich allein und wein wieder

Sonntag, 8. Januar 2017

Wozu?

und ihr schreit nach härteren strafen
besorgt euch fackeln, mistgabeln
pädophile sollen sofort ihren schwanz verlieren
damit sie und andere niemals wieder ein kind berühren
mörder haben für euch jedes recht auf menschlichkeit verwirkt
aufdass ein jeder von ihnen bei wasser und brot erfriert
wegen ein paar flüchtlingen wünscht ihr euch die grenzen zu
oder wahlweise auch rechtes pack in den sack und dann schlägt man kräftig zu
ihr fordert an allen ecken und enden schnell und hart gerechtigkeit zu schaffen
doch wünscht euch eigentlich lynchjustiz wie in den schlechten alten tagen
und vom volksentscheid auf bundesebene erhofft ihr mehr demokratie
denn ihr wähnt euch in der mehrheit und dass es jeder so sieht
wozu aufklärung? wozu humanismus? wozu modernes strafrecht?
wenn ihr zeiten der gefühlten unsicherheit doch wieder nach kammern voll gas lechzt

Duschkabine

so viel besser ist kapitalismus auch nicht, es ist nur länger gutgegangen
das ist ein bisschen wie kabine oder duschvorhang
hat man sich erst dran gewöhnt, heißt ich bin ein gemachter mann
auch nix anderes als ich leb aus vollem herz den klassenkampf
und wenn man sich mal wieder den porsche nicht leisten kann
dann wird man halt busfahrer, das kompensiert auch für den kleinen schwanz
an deren stelle würd' ich das land ja auch verlassen, wenn ich das nötige kleingeld hätte
aber im moment reicht's eben nur für 'ne beschissene einzelzelle
also scheiß ich aus vollem herzen auf das korrektiv zum glück
denn wir sind doch alle längst alle kollektiv entrückt

Toleranz?!

natürlich seh ich hautfarben und rollstühle, ist ja nicht so, dass ich blind wär
und natürlich guck ich nach brüsten und ärschen, ist ja nicht so, dass ich noch kind wär
aber vor allem interessiert mich das wieso, weshalb, warum
doch statt einfach zu fragen, bleib ich meistens lieber stumm
und so bleibt ataraxie für mich das anstrebsame ideal
denn dann wär mir endlich wirklich alles egal
nie mehr hättest du mal lieber was gesagt, nie mehr zweifel im nachhinein
und nie wieder für ich hab kein problem mit diesem und jenem drei euro ins phrasenschwein
denn mit dem eigenen kopf als einzigem echten gesprächspartner
bleibt meine toleranz eine unüberprüfte these im lebensalltag

Dienstag, 3. Januar 2017

Thekenthesen

es schlägt dreiviertel zwölf
der tod hat das gebäude umstellt
er ist mir letztendlich doch auf die schliche gekommen
dabei hab ich mich nicht mal entsetzlich beschissen benommen
also hat mich wohl doch mein lebensstil inzwischen eingeholt
weil mir nach zehn deckeln jetzt der rausschmiss aus der kneipe droht
 und auch der inkasso-typ spielt mit mir hasche
nach dreißig tagen urlaub, erstmal hundertzwanzig kasse
jetzt mal ehrlich, jeden tag migräne, jeden zweiten zahnschmerzen
moody's sollte mich so langsam echt mal abwerten
mein rücken hat sowas wie tragkraft nicht erfunden
deswegen geht mein blick immer krankhaft richtung unten
noch viel mehr als der rest, spottet meine körpermitte dem adonis
mit den knien geht's los und ich werd langsam katatonisch
ich glaub die midlife-crisis mit fünfzehn war schon reichlich optimistisch
und obwohl ich die letzten kröten zusammenkratz', die nutte im hotel fickt nich'
ich würd wirklich lieber die beine in die hand nehmen
aber mit einer hand am tresen, kann ich leider nur den sicheren stand wählen
alkohol hilft, betäubt und hält die gedanken fern
sonst würde ich bestimmt längst im gefechtspanzer fahr'n
so kotz' ich nur weiter abend für abend wildfremden vor die füße
würd gern dem kneiper danken mit reichlich trinkgeld für die mühe
doch statt an sedativa, crack, coke
berausch ich mich am negativen cash flow
so liegt mir die welt zu füßen oder ich ihr
ich verzichte auf essen und liebe, aber nicht bier
von hause aus ein schüchterner exzentriker
kann nur der widerspruch in sich meine existenz sichern
hauptsache auch mit einsacht aufm kessel kein wort sagen
interessier ich mich für alles, außer kunst, kultur und breitensportarten
bin inzwischen derb verpeilt und hart verstrahlt
und tanz tag für tag den seilakt auf natodraht
bis zur pumpgun muss arbeit auch weiter irgendwie täglich gehen
denn sonst fehlt mir sogar das geld, mir das leben zu nehmen