“Es ist
wieder wie früher, als ich in deinem Alter war.”
Leipzig lag gar nicht so weit entfernt, das weltoffene Leipzig,
die Messestadt und Studentenhochburg. Sie war jederzeit zu
erahnen. Oft genug erkannte Anne den Uniriesen und das
Wintergartenhochhaus am Horizont. Doch hier, kurz vor Leipzigs Toren, begann
schon das Niemandsland, Dunkeldeutschland, wenn’s auch nicht das
Vogtland war. Hier stand nicht Free Lina an den Wänden, hier
prangten Hakenkreuze, Anti-Antifa-Schriftzüge und Einsen und Achten an den
Fassaden. Hier trugen erschreckend viele unironisch Ostdeutschland-Schriftzüge
in Fraktur, ganz gleich ob tätowiert oder auf den Klamotten, und Thor
Steinar stand hier ganz eindeutig für ein Weltbild. Die guten Leute
aus der Schulzeit waren direkt nach der Schule zum Studieren oder wegen der
Lehre nach Berlin, Leipzig, München und so weiter gegangen. Kaum einer kam je
zurück. Anne ging nach dem Abi 2010 auch, doch sie kehrte wieder. Ihr eigenes
Studium hatte sie nach zwei Jahren hingeschmissen. Lieber trug sie hier in der
Provinz weiße AirForce One, eine Cargohose und Fred-Perry-Jacken. Aus dem
mattschwarzen Integralhelm blickte sie fast täglich von den Hügeln,
die eigentlich alte Deponien waren, über die Felder ihrer sogenannten Heimat.
Besonders im Frühjahr und Sommer tauchten die ersten Sonnenstrahlen des Morgens
die Landschaft in warmes Licht, doch in Annes Augen spiegelte die
Morgenröte nur ihren flammenden Hass auf so vieles, was zwischen den Hügeln lag
und geschah. Kleine Städte und Dörfer, kleine Waldabschnitte lagen dann
friedlich vor ihr. Die Szenerie täuschte nur auf den ersten Blick über den
blanken Hass und die fehlgeleitete Wut der Leute hinweg. Während etliche kleine
Initiativen mit geförderten Stellen und Ehrenämtlern versuchten, die Leute und
vor allem die Jugendlichen zurückzugewinnen, widmete sich Anne ganz der
praktischen Arbeit. Sie heizte immer wieder die S51 hoch und ballerte über die
Feldwege. Die Stahlrute klapperte während ihrer Ausfahrten in der Befestigung
am Sattel. Lina E. hatte es vorgemacht, die sogenannte Mitte der Gesellschaft hatte
die Gruppe damals wohl nicht überzeugt, Anne schon. Nazis sollten wieder Angst
haben.
“Es ist wieder wie früher, als ich in
deinem Alter war”, sagte ihr Vater seit 2014 immer öfter. Er selbst hatte sich
Anfang der 90er Schlägereien mit dem Faschistenpack geliefert, als sich auf das
Vakuum der Nachwendezeit ihre Strukturen verfestigt hatten. Die Glatzen
überfielen den einzigen Jugendclub der Stadt und die alte Villa, die befand
sich damals in Zeckenhand. Ab Anfang der Zweitausender schlief der gröbste
Stress ein, nicht zuletzt, weil NPDler das eigene Bild nicht beschmutzt sehen
wollten. Die Haare etlicher Rechter wurden länger, das Bild von der Glatze in
Bomberjacke schien bald ein Schrecken der Vergangenheit, Schnürsenkelfarben und
deren Schnürung wurden immer uninteressanter.
Am Abend des 18. März pumpte durch Annes Adern
Adrenalin. Mit etlichen früheren Wegbegleitern aus dem Leipziger Süden wartete
sie vor dem Jugendclub der Kleinstadt auf die Gegenseite. Drinnen fand gerade
ein Ska-Konzert mit den wenigen statt, die sich getraut hatten. Anne wartete,
ihr Atem kondensierte, es war nochmal kalt geworden, um die Null Grad. Spannung
lag in der Luft. Die meisten trugen Maske und alle hatten sich bewaffnet.
Stahlruten, Quarzhandschuhe, Knüppel, Schlagringe. Sollten die anderen nur kommen,
kein Millimeter nach rechts in gelebter Praxis.
Nach über zwei Stunden, quälender Stille waren die anderen zu
hören, sie kamen und sie kamen immer näher. Ihre Schritte hallten in den
Straßen und zwischen den Wohnhäusern wider, dann endlich sah man sie in der
Dunkelheit. Sie waren viele. Wie es bei ihnen Mode war, befanden sie sich
gegenüber Annes Seite deutlich in der Überzahl.
“Der Führer wäre stinksauer!”, schrie Anne ihnen entgegen. “Das
ist doch kein Gleichschritt!”
Nun flogen Flaschen in Annes Richtung,
Schreie wurden laut und die üblichen Parolen gegrölt. In den
umstehenden Häusern erloschen die Lichter. Dann begann der Ansturm.
Es klatschte, es schepperte. Schmerzensschreie wechselten sich mit wütenden
Rufen ab, vermengten sich. Die kleine Gruppe hatte sich in einer Engstelle nahe
dem Eingang versammelt, dennoch ging auch von ihnen immer wieder jemand zu
Boden. Blut färbte den Asphalt. Doch sie hielten stand und wie es mit den
Faschisten eben so war, wenn sie nur genug kassierten und das Kräfteverhältnis
langsam ins Gleichgewicht kam, zogen sie sich bald zurück.
Eine genaue Chronik der Geschehnisse der Nacht konnte wohl niemand
ablegen, doch zählte nur das Ergebnis. Kein Fußbreit dem Faschismus.
“Es ist wieder wie früher, als ich in deinem Alter war”, hatte ihr
Opa vor ein paar Jahren gesagt. Er hatte damals in den späten Zwanzigern
Schlägereien zwischen Faschisten und Kommunisten vor den Wahllokalen erlebt.
Als Kind und Jugendlicher hatte er damals den Aufstieg der Nazis in der
wankenden Weimarer Republik erlebt, war selbst in der HJ und später im Krieg
und in Gefangenschaft gewesen.
Am frühen Morgen des 01. September verließ Anne ihre
Wohnung, um sich auf den Weg zu ihrem Wahllokal zu machen. Kurz nach ihrer
eigenen schloss sich eine weitere Wohnungstür und Schritte folgten ihr durchs
Treppenhaus. Nach den ersten Metern auf der Straße bestätigte sich Annes
Verdacht, es war ihr Nachbar, der dumme Hundesohn, und er folgte ihr. Anne
wusste, sie musste durch die Schlippe am Freibad gehen oder einen
zwanzigminütigen Umweg wählen. Sie tat letzteres und ihr Verfolger hatte prompt
sein Handy in der Hand. Anne wusste Bescheid und beschleunigte ihren Schritt.
Es gesellten sich nun weitere Nazimacker zu ihrer Gefolgschaft, die schon oft
genug kassiert hatten. Ein Auto fuhr vorbei, auf dessen Heckscheibe Masterrace
geschrieben stand, wohl niemand, der einfach zum Bäcker wollte. Anne blickte
zurück, die Gruppe hinter ihr hatte aufgeholt, nun ging auch sie schneller und
fühlte gleichzeitig nach dem Schlagring in der Jackentasche. Das Auto hatte
mittlerweile angehalten und eine Gruppe von fünf Fascho-Atzen stand auf dem
Gehweg vor ihr. Zwei zu Annes linker, zwei zu Annes rechter Hand und in der
Mitte Kowalski, breit gebaut, mit Steroiden vollgepumpt und kampferprobt,
Prototyp des Baseballschläger Nazis, Relikt vergangener Tage, aber noch immer
gern gesehen als Vollstrecker unliebsamer Aufgaben. Sie hatten Anne umzingelt.
Zum Glück, dachte Anne, hatte sie nicht die Schlippe gewählt, dann wäre es
jetzt wohl schon vorbei. Sie starrte Kowalski an, er starrte zurück.
Beleidigungen wurden ausgetauscht, hier ein Schubser, da ein Rempler seitens
der Nazischweine. Nach quälend langen Minuten baute sich Kowalski direkt vor
Anne auf, packte sie von vorn an den Arsch.
“Kleine Antifa-Fotze, dich zerfick ich noch richtig.”
Er grinste, schien sich für seinen Einfallsreichtum sehr zu feiern, und machte mit ausgebreiteten Armen einen Schritt zurück. Anne nutzte die Gelegenheit, zog die beringte Hand aus der Jackentasche, traf perfekt und rannte. Sie rannte, bis die Lunge brannte. Auf Hilfe brauchte sie nicht zu hoffen, ihre einzige Chance war, bis ins Wahllokal zu kommen, in der Hoffnung, Kowalski und sein Trupp würden wegen ihr keinen Terror in der Schule machen. Mit Feuer in den Adern riss sie die Tür zum Schulhaus auf. Kowalski ließ den Motor seines alten BMW aufheulen und raste weiter. Sie hatte es geschafft. Nach kurzem Durchatmen betrat sie die Kabine und setzte ihre Kreuze. Anne ließ noch eine halbe Stunde verstreichen, ehe sie wieder nach draußen ging und beim Verlassen des Schulhauses sondierte sie die Lage ganz genau. Es war niemand zu sehen, der verdächtig wirkte. Die meisten Nazis kannte sie nur zu gut. Dann machte sie den entscheidenden Fehler, wollte nur schnell heim, und wählte den Weg durch die Schlippe. Genau darauf hatten Kowalski und die anderen Schweine spekuliert und ließen die Falle zuschnappen. Drei Mann riegelt von hinten ab, drei kamen ihr von vorn entgegen und Anne war gefangen in dem Durchgang unter der Bahnstrecke. Das eine oder andere Souvenir konnte sie ihren Gegnern noch verpassen, doch ihr Kampf war aussichtslos und als Anne zu Boden ging waren die verzerrten Fressen der Angreifer und deren Stiefelsohlen das letzte, was sie sah.