Dienstag, 8. Juni 2021

Origin Story


 Wir taten, was wir immer taten, wenn wir in der Substanz zusammen kamen. Olli und ich, beide Anfang/Mitte Zwanzig, saßen bei ein paar Bier zusammen, untersetzt mit Mexikanern, Polnischen Raketen und Möwenschiss - großartiges Getränk, Korn mit einer Scheibe Bifi und einem Schuss Mayo.

Schlecht rasiert und viel zu laut waren wir die schlimmsten Waschweiber der Stadt. Der hat mit der geschlafen, die mit dem, während wir mehr oder weniger auf dem Trockenen saßen. Wir bestellten Runde um Runde. Suhlten uns in unserer gekränkten Vorstellung von Männlichkeit. Keiner von uns war reich, was sicher auch am unterschiedlich stark ausgeprägten Konsum verschiedener Substanzen lag. Seit Mama und Papa das Auto nicht mehr bezahlten, war auch Olli Radfahrer. Keiner hatte einen festen Job, er war Student, ich Gelegenheitsjobber in einem Büro. In einer Schlägerei hätte sich keiner von uns behaupten können.

Also fassten wir den für uns einzig logischen Entschluss. Wir würden uns und dem Rest der Welt unsere Männlichkeit beweisen.

Mit käuflicher Liebe.

Während ich die Rechnung zahlte, rief Olli ein Taxi.

Olli nahm auf der Rückbank, ich auf dem Beifahrersitz Platz.

"Wo soll's hingehen?"

Ich drehte mich um und leitete die Frage weiter mit einem Blick der sagte: "Ja? Wohin eigentlich?" Olli gab dem Fahrer eine Straße, keine Hausnummer, der wusste Bescheid. Wahrscheinlich waren siebzig Prozent seiner Fahrten an einem Freitagabend nach 22 Uhr so oder so ähnlich. Er fuhr los und ganz Mann, wie wir waren, entwickelte sich aus dem Stehgreif eine Coverstory. Plötzlich wurde ich zum Amisch und unser grundloses Trinkgelage zum Junggesellenabschied, zu zweit wirkte das auf mich noch trauriger als die Wahrheit. Der Taxifahrer ließ sich aufgrund seiner Orts- und Menschenkenntnis nur zu einer kurzen Bemerkung hinreißen: "Also ich würde für'n Freund ja richtig was springen lassen, statt ins Laufhaus."

Und gerade mal zwei Minuten in meiner Rolle als Zukünftiger einer imaginären Frau ging ich schon voll darin auf. Der Mann habe recht, ich hätte mehr verdient. Olli besänftigte mich, er zahle alles. Den Anfang machte er mit der Fahrt. Ich sollte an diesem Abend kein Geld mehr in die Hand nehmen.

Als Olli zum Geldautomaten ging, folgte ich ihm aus einer Vorahnung. Fünfzig? Würde das reichen? Ich hob siebzig ab, sicher ist sicher, dann zogen wir weiter.

Im Eingangsbereich legte Olli seinen Arm um meine Schulter, bekräftigte erneut seine Aussage, er zahle, und bat mich mir eine auszusuchen. Es war so Fleischmarkt, wie es bei ihm klang. Vor den offenen Zimmertüren saßen die Frauen und boten sich feil. Blond, rothaarig, brünett. Falsche Brüste, kleine. Schiefe Zähne, gerade. Stilettos, Nuttenstiefel. Sie hatten alle ihre USPs. Ich schritt den Gang der Länge nach ab und blieb am Ende bei einer schwarzhaarigen mit gemachten Titten und schiefen Zähnen stehen. Sie erläuterte mir in ihrem osteuropäischen Akzent die Angebotspalette: "50 Euro: zwanzig Minuten Penetration. 70 Euro: halbe Stunde, oral und Penetration", und so weiter und so fort, "Zahlung im Voraus." In meinem Suffkopp kalkulierte ich: halbe Stunde, blasen und ficken, klar, wieso nicht. Ich sah mich um, Olli war nicht zu sehen, also bezahlte ich sie. Ich machte eine gedankliche Notiz, mir das Geld später zurückzuholen. Sie nahm meine Hand und ging mit mir aufs Zimmer, sie schloss die Tür. Dahinter stilgemäßes Dekor: rote, gedimmte Beleuchtung, Doppelbett mit einem roten Laken (wobei irgendwie alles rot aussah), Kondomspender, zwei Sessel, eine Couch, plus ein kleiner Glastisch. Insgesamt besser ausgestattet als meine Wohnung.


Sie bat mich abzulegen und mich schonmal aufs Bett zu setzen, verschwand sie kurz ins Bad.

Als sie wieder rauskam, fiel mir auf, dass ich sie nicht nur geil fand, sondern wegen irgendetwas in ihrer Art, wie sie sich bewegte und sprach, sogar sympathisch. Sie hatte sowas Kümmerndes an sich, etwas fürsorgliches, gänzlich urteilsfrei, ein Gefühl dafür, wie sie mit mir zu sprechen, sich zu geben hatte. Ich tippte auf ein in Deutschland nicht anerkanntes Psychologiestudium im Ostblock. Was es irgendwie noch absurder machte, dass sie jetzt für 70 Euro vor mir kniete und ein Präser über meinen Halbsteifen rollte, noch ehe sie ihn in den Mund nahm. Ich verstand die hygienischen Gründe dafür und war irgendwie auch dankbar meinen Schwanz nicht in direkten Kontakt mit den zwanzig bis zweihundert vorangegangenen des Tages zu bringen, aber diese Professionalität verpasste meiner Libido den ersten Tiefschlag, auch wenn die Bezeichnung Professionelle mir in diesem Moment erstmals im Leben wirklich klar wurde. Sie begann ihre Arbeit und ich ließ mich rücklings aufs Bett fallen. Sie ritt mich, wichste mir einen, sagte mir, wo ich anfassen durfte. Sie tat alles, was der gesteckte Finanzrahmen zuließ. Die Uhr tickte erbarmungslos runter. Wortwörtlich. Ich war unter Druck nie besonders gut. Nachverhandlungen konnte ich mir, trotz der versprochenen Kostenübernahme, nicht leisten.

Mir kam die Stimme meines verstorbenen Trainers in den Sinn: "Letzte Minute läuft!"

"Noch dreißig Sekunden!"

"ZEIT!"

Und schon war es vorbei. Sie wies mich an, die Unterhose wieder anzuziehen, sie würde die Tür öffnen, damit die wüssten, dass alles okay ist.

Die?

Da dämmerte es mir: Die! Angel's World. Alles klar. (Den Wahrheitsgehalt dieser Hypothese habe ich nie überprüfen wollen.) Nach dieser Schrecksekunde bot sie mir an mich im Bad kurz frischmachen zu können, fragte, ob ich einen Eistee möchte. Sie warte dann auf dem Gang.

Ich spülte mein Gesicht kurz ab, zog mich an und ging zu ihr auf den Gang. Sie saß wieder auf ihrem Barhocker. Ich stellte mich neben sie, lehnte mich an die Wand und wir unterhielten uns. Von einer kurzen Umfrage zur Kundenzufriedenheit ging es die nächsten Minuten noch weiter. Ich erzählte von meinem Bürojob und meiner immer noch imaginären Zukünftigen, schließlich war es wichtig bei einer Story zu bleiben. Ich erzählte, dass ich in meiner Freizeit schrieb, und erfuhr, sie sei Näherin aus Ungarn, die in Deutschland keine Anstellung fand und einen Mann wegen ihrem Broterwerb auch nicht. Hätte ich das alles eine halbe Stunde eher gewusst, ich hätte sofort abgespritzt.


Als ich ausgetrunken hatte, ging ich zurück in den Eingangsbereich. Olli war auch schon wieder zurück und wartete auf einem schwarzen Ledersofa auf mich. Er klatschte mich ab, ich behauptete, es sei alles super geil gewesen.


Sie hatte offensichtlich Schichtende, denn sie kam in Jeans und Kapuzenpulli auf uns zu. Olli preschte los: "Na, wie war er?"

Sie streichelte mir im Vorbeigehen die Schulter, wischte so die Scham ein wenig weg, und bestätigte ihm meine sexuelle Kompetenz, dann verschwand sie.

*Erschienen in der großartigen Fettliebe.

Freitag, 3. April 2020

#zuhause


Es war um den Jahreswechsel, als uns die Nachrichten eines neuen, hochansteckenden Virus' erreichten. Da hieß es noch, die Grippe sei viel, viel schlimmer, selbst wenn alle Statistiken zu Ansteckungsrate und Krankheitsverlauf das Gegenteil indizierten. Anfangs lachten wir auch noch darüber, dass das Regime in China eine ganze Provinz abriegelte. Sowas gäbe es auch nur in einer Diktatur.

Einige Wochen später erreichte auch uns der Virus und wir wurden alle in unsere Wohnungen verbannt. Hashtag zuhause begleitet von Polizisten auf Spielplätzen, in Parks, in Hubschraubern über den Städten und Denunziantentum im engeren Wohnumfeld. Es fühlte sich an, als warteten wir alle aufs Ergebnis des AIDS-Tests. Vorsorglich schenkten wir deshalb nach und nach unsere Rechte her. Auf Ausgangsbeschränkungen folgten freigegebene GPS-Daten und Bewegungsprofile. Feuchte Träume von Autokraten erfüllt vom freien, panischen Bürgerwillen. Sondervollmächte und Ermächtigungen bis die Krise ausgestanden sei. Doch wann war ein Virus je verschwunden? Die wenigsten waren darauf vorbereitet die Freiheit einst Stück für Stück zurück zu erobern. Zu sehr waren wir auf unsere eigene, kleine Blase getrimmt.

Die Einschränkungen im Privaten gingen Hand in Hand mit Schließungen all überall. Konzerne und Unternehmen, die selbstbeweihräucherten Motoren unserer Gesellschaft, sie alle beantragten sofort Kurzarbeit. Die Arbeiter, die Angestellten, alle auf Biegen und Brechen über Jahre bis zum letztmöglichen Tag für die letzten Kröten ausgepresst, sie alle wurden schnellstmöglich herabgesetzt auf fünfzig, zwanzig oder gar null Prozent ihrer Arbeitszeit, sahen ihre Felle davonschwimmen. Die Vermieter, die Banken, keiner war bereit, auf sein Geld zu verzichten. Stundungen das höchste der Gefühle. Währenddessen beschlossen Milliardenkonzerne, die immer schon, wo immer möglich ihre Steuerlast kleinrechneten, ihre Zahlungen einzustellen. Kredite? Können wir nicht bedienen. Mietzahlungen für Ladengeschäfte? Wie denn, ohne Einnahmen.

Und die geschundenen Massen? Sie kuschten weiter. „Gott bewahre uns vor der Arbeitslosigkeit. Die abhängige Beschäftigung macht uns frei.“

Parallel dazu schrien die Firmen, die sich durch Abgaben und staatliche Beschränkungen in ihrem freien Handeln eingeschränkt fühlten, sofort nach Vater Staat. Vater unser, der du sitzt im Reichstag, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Unsere Hilfszahlungen gib uns heute. Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Gläubigern. Erlöse uns von der Lohnfortzahlung. Denn dein ist das Recht und die Republik. In Ewigkeit. Amen.

Während also die einen zwangsentschleunigt wurden, die anderen ihre Milliarden retteten und, ohne dass sie es in der Form wollten, die systemrelevanten Berufe in den Mittelpunkt gespült wurden, wurden auch die Rufe immer lauter. Zunächst noch verhalten, bald immer überzeugter. „Asylbewerber auf die Felder!“ „Und Fridays For Future!“ „Und Hartzer!“ „Und die linksgrünversifften Meinungsdiktatoren sowieso!“ Der gute, aufrechte Biodeutsche habe schließlich ein Geburtsrecht auf Spargel. Zwangsarbeit zur Erntezeit war der schmale Grat, auf dem man wandeln wollte. Der Protest dagegen verhallte in den Unweiten der gedrosselten Internetgeschwindigkeit.

So gingen die Wochen ins Land, bis wir kurz vor Beginn der zweiten Jahreshälfte wieder ohne Passierschein den Arbeitsweg antreten durften. Dort angekommen sagte man uns, es sei nun unabdingbar, hundertfünfzig, ach was, zweihundert Prozent zu geben, um die wirtschaftlichen Schäden abzufedern. Natürlich dürfe man sich wieder frei bewegen, aber bisherige Arbeitszeitregelungen müsste man nun zunächst außer Kraft setzen, bis die Krise ausgestanden sei. Der Virus habe schließlich eine noch schwerer wiegende Wirtschaftskrise bedingt. Wie vorher könne man da nicht weitermachen. Die Natur, die versucht hatte, zurückzuschlagen, hatte man ja wieder unter Kontrolle gebracht. Jetzt galt es das gottgleiche Wesen des Marktes am Leben zu erhalten, damit er alles weitere regeln konnte.

Montag, 13. Januar 2020

Klandestines Wohnen


Ich war nie ein besonders engagierter Mensch. Ich machte zu wenig Sport, rauchte unentwegt, kaufte Billigfleisch in Plasteverpackungen. Mein Abwasch türmte sich oft wochenlang, bis das Konstrukt zu fallen drohte, ehe ich endlich aufwusch. Mit Mühe und Not schaffte ich es, jeden Tag arbeiten zu gehen. Kurzum ich war ein Musterbürger. Von der Lohnarbeit zu entkräftet.
Und nicht nur fehlte mir oft genug die Kraft, auch Mut war nie mein Steckenpferd. Statt mich zu offenbaren, mich zu erkennen zu geben, lauschte ich lieber den Tiraden der selbsternannten Bürgerlichkeit, wenn sie sich de facto als Faschisten outeten. Schließlich kam es, wie es kommen musste, dass ich, als die Masse jubelnd zustimmte, meine Ablehnung nicht mal mehr flüstern konnte. Ich hatte meine Stimme verloren, den Moment verpasst, da reden noch etwas gebracht hätte.

So ergab es sich auch, dass ich eines Tages wieder durch meine Küche schlich, während Liebknecht mit Luxemburg und Brecht in meinem Schlafzimmer am dort von mir aufgestellten Küchentisch saß. Fenster und Türen hielten sie geschlossen ebenso die Vorhänge. Das Licht hatten sie gedimmt. Bis auf vereinzelte Ausrufe war selten mehr als ein Flüstern von ihnen zu vernehmen. Wie sie wirklich hießen, fragte ich nicht. Was sie im Detail besprachen, wusste ich nicht. Was mir drohte, wenn sie aufflogen, verdrängte ich. Ich hoffte schlicht, sie würden den Karren aus dem Dreck ziehen, in den ich ihn mit meiner anhaltenden Passivität mit herein gesteuert hatte.
Immer zeitiger wurde es jetzt dunkel an den voranschreitenden Herbsttagen, immer größer auch die Gefahr, ertappt zu werden in dem Zimmer mit Blick aufs Hinterhaus. Ob es nicht besser sei, den Fernseher ausgeschaltet, das Licht gelöscht zu lassen in meiner Wohnküche, hatte ich sie mal gefragt. Es sei sicherer den Streifen auf der Straße dasselbe Bild wie in den anderen Wohnungen zu bieten, bekam ich zur Antwort.

Es wurde wieder ein später Abend, ehe der erste von ihnen das Zimmer verließ, auf Socken durch den dunklen Flur zum Türspion schlich und ins Treppenhaus spähte. Wenn er zu den anderen zurückkehrte, ihnen sein Okay gab, hörte ich auf ihre Schritte, hörte auf die Tür, wie sie sich öffnete, wieder schloss. Wie immer verharrte ich noch ein paar Minuten vor dem Fernseher, bevor ich ins andere Zimmer ging, den Umschlag vom Tisch nahm und in meine Arbeitstasche steckte. Wie immer würde ich den Tisch erst am nächsten Morgen zurückstellen, wenn das morgendliche Getümmel des Arbeiterhauses alle Geräusche übertünchte. Und wie immer würde ich dann, auf dem Weg nach draußen, die Adresse aus meinem Briefkasten greifen, mir einprägen und mit der ersten Zigarette verbrennen.
Hätte ich nur ein wenig eher den Arsch hochgekriegt und Mut gezeigt, hätte ich es an diesem Tag nicht schon wieder tun müssen. Das Leben im Konjunktiv, es könnte so schön sein, doch das war es nicht. Denn als sie kamen, inszenierten sie sich als Volksvertreter, Volksversteher und der um sich greifende Wahn bestätigte sie. Die geschürten Ängste und die Wut bildeten die Bugwelle für sie. Das Boot sei voll und in seinem Fahrwasser wurden sie nach und nach in die Parlamente gespült. Als dann noch ihr charismatisch-eloquenter Heilsbringer kam, konnten sie frei schalten und walten. Kulturfonds wurden eingestampft, Vereinen die Finanzierung entzogen, Intendantenposten nach Belieben neu besetzt. 
Das Volk, dem sie Geld und Liebe versprachen? Es spielte ihnen weiter fleißig in die Karten. Verflogen war die Angst, man könne Dieselmotoren und Flugreisen verbieten. Für den deutschen Michel änderte sich tatsächlich nichts, sofern er denn berufstätig war. Erbschaften blieben bis zu horrenden Summen steuerfrei, Männer konnten weiter bedenkenlos ihre Frauen prügeln, Hausfrauen und Mütter mussten sich nie wieder rechtfertigen und endlich gab es Mutterkreuze in Gold und Platin.
Wer Hartzer war oder in einem Orchideenfach studierte, wurde dazu verordnet in seines oder ihres Schweißes Angesicht zu glänzen.
Mit dem Umbruch ausgelernt und stets unter dem Radar geflogen, konnte ich mich noch relativ sicher bewegen und handeln, die Botschaften derer, die mehr zu sagen, zu leisten wussten weitertragen.

So bog ich an diesem Morgen auf meinem Weg zur Haltestelle in eine Seitenstraße, um den Umschlag einzuwerfen. Ich hatte bereits zwei Gestalten hinter mir bemerkt und als ich mich hinkniete, um meine Schuhe zu binden, wurde es schwarz vor meinen Augen...

Montag, 1. Juli 2019

Spoiler - Ich habe meinen Nachbarn sterben gehört

Es war ein ganz normaler Abend Mitte April. Über mir tobte das Leben, oder viel eher machte das Leben ihn toben. Ich konnte nie herausfinden, ob es zu viel oder zu wenig Stoff war, der das aus ihm heraus kitzelte. Aus diesem hageren Häufchen Elend, diesem Opfer seines eigenen Lebens. Die Augen gerahmt von schwarzen Ringen, die Haut fahl, den kalten Schweiß auf der Stirn wirkte er immer, als kuriere er gerade eine schlimme Grippe aus.
Seine bessere Hälfte blieb, trotzdem er immerfort mit ihr in den allerhöchsten Tönen sprach.

"Schlampe!"

"Fotze!"

"Verpiss dich, du Hure!"

Türen knallten, Teller flogen und zerschellten.
Die Beamten rückten an, nachdem das Mobiliar zerbarst.
An diesem Abend waren die Bullenschweine erstaunlich gern gesehene Gäste im Haus, nachdem alle Beschwerden, alle Gesprächsangebote, alle Drohungen gar an der Wohnungstür verhallten.
Das Blaulicht lud beinah' zum Tanzen ein, die immer gleichen Fragen bildeten die Bassline: "Haben Sie was genommen? Haben Sie getrunken?"
Seine Argumentation drehte sich entgegengesetzt im Kreis: "Hab ich Sie angerufen? Nein! Also, warum reden Sie mit mir?"
Schnell war mir klar, dass er damit die Beamtengemüter nicht besänftigen konnte.
So führten beide Parteien eine ganze Weile ein rhetorisches, höchst eloquentes Tänzchen auf.

"Was ist hier vorgefallen?"

"Das geht Sie gar nix an!"

"Haben Sie was genommen?"

"Das geht Sie gar nix an!"

Und so weiter und so fort.

Dann wurde es verdächtig ruhig. Vom Fenster sah ich die Freunde und Helfer seine bessere Hälfte zum Dienstwagen eskortieren.
Er hatte sich irgendwann wieder gefangen, alleingelassen mit sich in der Wohneinheit.

Später hörte ich die Dusche laufen, dann den Knall von Biomasse auf Keramik. Es folgten Schmerzensschreie in immer länger werdenden Intervallen und das quietschende Rutschgeräusch strauchelnder Gliedmaßen in der Duschwanne. Noch später wurde es, bis auf das gleichmäßige Rauschen in der Wasserleitung, still und ich konnte endlich schlafen.

Als am nächsten Tag niemand dem abgehalfterten Hausmeister öffnete, drehte der prompt den Haupthahn zur Wohnung ab, klebte einen Infozettel an die Tür, man möge sich bei ihm melden.

Auch die nächsten Tage blieb es auffällig unauffällig im Stockwerk über mir. Weder sah noch hörte ich ihn oder sie. Wäre er die Oma aus dem dritten Stock gewesen, ich hätte mich gesorgt, doch so genoss ich wie der Rest des Hauses den faulen Frieden.
Ich weiß nicht mehr, wie lang es dauerte, bis der süßliche, moschusartige Duft der späten Gerechtigkeit seinen Weg durch die verschlossene Wohnungstür ins Haus fand. Bis man ihn in einer schlichten schwarzen Kiste aus dem Haus trug. Bis die Spezialreiniger kamen. Bis endgültig Ruhe einkehrte.

Donnerstag, 31. Januar 2019

Dornenkrone


Das Haupt wiegt schwer unter der Dornenkrone.
Der Tod des Messias' hat doch schon Methode.
Kenn das Gefühl zu gut: hinschmeißen, bleiben lassen,
statt Schwäche zeigen, lieber Scheiße quatschen.

Das Hemd gebügelt die Krawatte sitzt.
Null, acht, fünfzehn von neun bis fünf,
dann noch kurz zusammenreißen
und zu Haus die Segel streichen.
Morgen verkauf' ich wieder das Leben als Witz
und der Alltag bürstet mich gegen den Strich.
Denn während Gesundheitsminister Reden schreiben,
muss ich mir jeden Tag aufs Neue Zähne zeigen.
Du bist dumm und hässlich,
schreit die Stimme im Kopf täglich.
Also im Laufschritt vor Karriere fliehen
und die verdammten Konsequenzen ziehen.
Die eig'nen Fehler erkennen, Brücken abbrechen,
statt Ja und Amen sagen, endlich anecken.
So schlag ich Sprossen aus der Karriereleiter,
such' nach Chancen und mach das hier weiter.
Dreiundneunzig Kilo Minderwertigkeitskomplexe und Angstneurosen.
Sicher, ich könnt' das schon, doch wollt nie ganz nach oben.

Und von RAG
bis nach Roubaix
das Leben baut auf Pfade aus Kopfsteinpflaster.
Vierzig Stunden die Woche kämpf ich mit dem Kotzreiz, Alter.
Also frag nicht, was will ich erreichen,
rational lässt sich das nicht begreifen.
Lebensentwurf eher so 'ne Mischung aus Buk und Kafka
als Maschmayer, Trump und Prawda.

Kann schon sein, dass es mir mal auf die Füße fällt,
doch man muss 'ne Richtung wählen, solang man die Zügel hält.
Und wenn jede Faser schreit: jetzt oder nie!
Dann setz' ich aufs Spiel!

Freitag, 18. Januar 2019

Alter Freund


Wie lang kennen wir uns?
Zehn, zwanzig Jahre?

Ein Leben lang!
Du warst immer da.

Mit sechs der erste Kuss,
hat mich komplett umgehauen.
Dann lang nur von Ferne betrachtet,
bis ich so dreizehn, vierzehn war,
da hast du mich eingefangen,
in deinen Bann gezogen.

Du hast jeden Umzug mitgemacht,
jede Frau mit mir geteilt,
jede Party, auf der ich war,
besuchten wir Hand in Hand.

Dann Schläge in die Magengrube
eingeschlossen im Bad,
in der Straßenbahn,
in dunklen Seitenstraßen.

Ich bin immer zurückgekommen,
hab immer dein Versprechen geglaubt,
alles würde besser mit der Ewigkeit,
doch hatte ich dann ausgeschlafen,
blieb nur der Trennungsschmerz,
deine kalte Schulter.

Hab dich nie besser kennengelernt
als damals mit sechs.

Wir sehen uns immer noch gelegentlich,
doch du bist nur noch ein alter Freund.

Samstag, 29. September 2018

Sommer in der Stadt


Als er wach wird, hat die Sonne ihren Zenit bereits überschritten. Er wischt sich die Hände am Laken trocken, zieht sich Unterhose und T-Shirt an. Der Geruch der Milchsäure steigt ihm aus dem Wäschekorb in die Nase. Er rafft sich auf, packt den Korb, geht ins Bad und schüttet den Inhalt unbesehen in die Maschine, schlägt die Tür zu und geht weiter in die Küche.



Er spült eine der herumstehenden Tassen flüchtig aus, gießt sich den letzten, kalten Kaffee vom Vortag ein und stellt sich ans offene Fenster. Auf der Straße unter ihm ist es ungewöhnlich ruhig. Er sieht auf die Uhr: 16.43. Eigentlich Zeit für Begängnis, Hochbetrieb, Geschäftigkeit, Feierabendverkehr. Kurz: Montagnachmittag.



Der Himmel babyblau, kein weißer Fleck weit und breit, der die Optik verschandeln könnte. Nur aus der Ferne sind die Schläge der Rotorblätter eines kreisenden Hubschraubers undeutlich zu vernehmen. Auch die Rufe aus dem Stadtzentrum sind nicht zu verstehen, doch er kennt sie bereits. Er weiß, was er morgen in den Zeitungen wird lesen können. Die Arme von einigen zum alten Gruß gehoben, Parolen proklamiert. Er weiß, was darauf folgen wird. Die üblichen Grabenkämpfe in den Kommentarspalten. Alle über jeden Zweifel erhaben. Die einen werden den Mob verharmlosen und die Schuld für die Ausfälle auf gezielte Provokationen der Gegenseite schieben, während die anderen mit einem Vergleich jede Diskussion im Keim ersticken werden. Er verabscheut die - womöglich wirklich - Besorgten für ihre Anbiederung bei den Fahnen schwenkenden Schreihälsen. Doch er will sich nicht zu erkennen geben. Noch nicht.



Er geht zur Küchenzeile, wiegt die Box vom Asia-Lieferservice in der einen Hand, während er mit der anderen eine Gabel aus dem Abwasch greift und setzt sich an den Küchentisch. Die Nudeln haben die Sauce seit dem Vorabend aufgesogen. Das Hähnchenfleisch ist kalt und labberig. Er beginnt die Reste in sich rein zu schaufeln. Draußen rauschen nur sporadisch Autos vorbei. Wer nicht im Stadtzentrum ist, muss wohl noch im Urlaub am Meer, in den Bergen oder auf Malle sein. Er versucht die Ruhe zu genießen, überlegt, wen er anrufen, mit wem er weggehen könnte.



Hans ist sicher mitten im Demozug zu finden. Thor Steinar war bei ihm nicht nur eine Phase schlechten Geschmacks. Olli wird Hans wohl gegenüberstehen, ist er doch inzwischen ganz offen Linker geworden. Keiner von den zündelnden Steineschmeißern. Gutmensch eben. Integration statt Abschiebehaft, immer kontra dem rechten Denken. Aus Prinzip und Überzeugung. Doch er ist noch nicht bereit, sich an Ollis Seite zu erkennen zu geben. Es wird schon vorbeigehen. Wie mit den Hartzern und den Griechen. Abgelöst durch ein neues Feindbild.



Er dreht das kalte Wasser auf, legt sich in die Wanne und beobachtet den steigenden Wasserspiegel. Sein untergetauchter Kopf lässt auch die letzten Außengeräusche verstummen. Er schließt die Augen, vergisst die schwere Luft, verdrängt die aufgeheizte Stimmung. Es wird schon vorübergehen.



Er beginnt zu schweben, sieht die guten alten Zeiten vor seinem inneren Auge. Mit Hans und Olli in der Schule. Keine Sorgen weit und breit. Saufen, feiern, tanzen. Das volle Programm.



Er hört einen dumpfen Schlag, öffnet die Augen, taucht auf. Von draußen hämmert der Regen an die Scheibe. Der Himmel ist grau. Blitze zucken über der Stadt. Das Wetter ist gekippt. Sicher nur ein Moment.